Self Defense Family – Try Me

von am 7. Dezember 2013 in Album, Heavy Rotation

Self Defense Family – Try Me

40 Minuten Oldschool-Post-Hardcore-Songs bei 80 Minuten Gesamtspielzeit: Self Defense Family sind keine gewöhnliche Band – und das heiß erwartete ‚Try Me‚ nach unzähligen (Split)Singles und EP-Vorboten natürlich auch kein herkömmliches Debütalbum. Auch ungeachtet der Tatsache, dass es mit einem kleinen Perspektivenwechsel schon der vierte Langspieler der im steten Wandel befindlichen Kollektives um Ausnahmevorstand (, Sänger und „personality„) Patrick Kindlon ist. Wen das schon verwirrt, den könnte das aus der Zeit gefallene ‚Try Me‚ nun endgültig aus dem Konzept bringen.

Mit absoluter Bedingungslosigkeit und bar jeglicher Konventionalität: kein Musiker der lose um Kindlon zirkulierenden, knapp zehnköpfigen Band war an allen Songs von ‚Try Me‚ beteiligt, keiner an allen Liveshows. Bis vor kurzem nannte der Charismatiker und bekennende Will Oldham-Fan Kindlon seine Band auch noch End Of A Year Self Defense Family oder ließ sie auf den zahlreichen Miniveröffentlichungen 2013 als Self Defense Music ankündigen – dabei hatte man sich längst als End of A Year einen vielgepriesenen Namen erspielt. Eigentlich kommerzieller Selbstmord. Aber Kindlon praktiziert Dinge eben nicht wie andere. Weswegen er sich auch nicht begnügte Angelique Gauthier (alias 80er-Pornostar Jeanna Fine) als Chemical People-Referenz am Albumcover tanzen zu sehen, sondern die im Ruhestand lebende Dame kurzerhand ausfindig machen ließ – und sich vollends in der einnehmenden Ausstrahlung des Objektes seiner Begierde  verlor, sich ob dieser Faszination hat hinreißen lassen.

Angelique Gauthier ziert nun letztendlich nicht nur das Artwork und liefert das vage Leitmotiv hinter ‚Try Me‚, sondern beansprucht auch knapp die Hälfte der Spielzeit. ‚Angelique One‚ und ‚Angelique Two‚ sind zwei reine, gigantische Biographie-Interviewmonstren (MONSTREN! – nicht „Interludes„!), denen Self Defense Family in Summe sage und schreibe annähernd 40 Minuten der Spielzeit von ‚Try Me‚ gönnen. Das ist exzentrisch, kompromisslos und in seiner beinharten Konsequenz faszinierend (wieder: kommerzieller Selbstmord?), auch, weil Gauthier ihre bewegte, exzessive Lebensgeschichte unheimlich unterhaltsam und intensiv (schmatzend) erzählt – diese Frau hat verdammt viel erlebt.
Aber ernsthaft: wer soll die beiden Interviews nach spätestens dem 2 Durchgang nicht dauerhaft skippen? Darüber hinaus ist der Luxus sich diese Exkursionen zu gönnen einer, der vor allem beim 21 Minuten langen ‚Angelique One‚ als zentraler Albummittelpunkt platziert dem Spielfluss absolut nicht entgegen kommt und bis dahin aufgebaute Spannungen alleine aufgrund seiner exaltierten Distanz unnötig unterbricht.

Weswegen an dieser Stelle neben ein wenig MP3-Jongliererei auch tunlichst der Griff zur im Gegensatz zur digitalen Vorhut erst Anfang nächsten Jahres kommenden Doppel-Vinyl-Version empfohlen sei, bei dem sich das Gesamtwerk ‚Angelique‚ auf eine autonome Schallplatte gepresst präsentieren wird – und damit als eigenständige Bedarfangelegenheit dankbarer wirkt, weil sich das Interview nicht als Klotz, sondern in seiner Funktion als Zeitdokument und florierende Inspirationsquelle entfalten kann.

Damit bleibt auch nicht die Sicht auf das Wesentliche versperrt, darauf, womit Self Defense Family hier eigentlich glänzen: ihren Songs. Denn Patrick Kindlon und seine Jungs und Mädels haben auf ‚Try Me‚ den 2013 über brillante Kurzspieler wie ‚I’m Going Throught Some Shit‚ oder ‚Self Immolation Family‚ hingezogenen Zenit weiter ausgedehnt. Self Defense Family haben sich seit dem ruppig rockenden Hardcore von End of a Year markant weiterentwickelt, vor allem die Quintessenz des Dischord-Katalogs verinnerlicht und das Schaffen von Lungfish, Nation of Ullyses, Fugazi und Guy Puciato in sich aufgesogen und längst trocken und kantig im rauen Sound in ihre eigene, depressive, abgekämpfte, kluge, nachdenklich angestaute, emotional aufgeladene, sperrige aber entlohnende, schräge und hier und da auch amüsante Welt transferiert.

Kindlon gibt dabei als Mittelpunkt den sprechsingenden Zeremonienmeister, energischen Geschichtenerzähler und selbstkritischen Beziehungsprediger irgendwo in stilistischer Nähe von heiseren Fucked Up, nur dass man sich die Texte hier manchmal einrahmen will („Simple folk need their love songs/ Idiots love an anthem/ Dinner bell for the dull/ Cattle call for morons/ Repeat a woman’s name/ Keep your verses vague/ Motivate yourself to sing along„) und manchmal direkt in die „Ab 18“ -Abteilung stellen muss („Place his lips to nipple he’s crying/ Place his tongue to clit he’s sobbing/ Two ounces lighter but he feels weighted„). Für ‚Apport Birds‚ wechselt Kindlon gar in die Tierperspektive um den Sinn hinter Religionen zu erforschen und erkennt mit zusammengeschnürter Kehle: „I understand the pull of religion/When there’s a loss that won’t stop itching!“ Der Mann trägt sein Kreuz zur Schau.

Nur im kurzweiligen ‚Mistress Appears At Funeral‚ räumt Kindlon das Feld und Mikro im Stile der ‚You Are Beneath Her‚-EP für Bandkollegin Caroline Corrigan, was seine Band kurzerhand dazu nützt einen aufmunternden, countryinfizierten Ohrwurm aus der Hüfte zu schießen, der es sich neben Fleetwood Mac gleichermaßen bequem macht wie neben Aime Mann. Auch die verwunschenen weiblichen Backgroundgsänge in ‚Turn The Fan On‚ funktionieren in ähnlichem Stil und zünden als zusätzlicher Melodiemotor hervorragend, während die psychedelische Orgelklänge im trippigen Mittelteil des herausragenden ‚Aletta‚ für permanente Abwechslung sorgen. Siehe auch: das am Rock-Pedal stehende ‚Nail House Music‚ oder das über gerade einmal zweieinhalb Minuten driftende, aber ausufernde Felder für sich beanspruchende ‚Weird Fingering‚. Jedoch keine falschen Vorstellungen bitte: obwohl jeder Song hier seinen eigenen Charakter spendiert bekommen hat und trotz seiner inkohärenten Urhebermasse ist ‚Try Me‚ eine frei atmende, unheimlich homogene Songsammlung wie aus einem Guß geworden.

In der zehnminütigen Halluzination ‚Dingo Fence‚ führen Self Defense Family zum Abschluss noch einmal in aller Deutlichkeit vor, dass sich das Songwriting der Band auch zu einem Gutteil seiner Eindringlichkeit aus Repetitionen und eigendynamischer Verdichtung im suchenden Jam-Stil zusammensetzt: wann genau Kindlon vor seiner stoisch das musikalische Grundmotiv des Songs wiederholenden Band das Mantra „All the dumb cunts/ they get what they want“ durch „All the dumb cops/ they get what they want“ und „All the dumb cocks/ they get what they want“ hinweg umformuliert um niemanden anzugreifen (er meint damit: nicht auszugrenzen -„I have no preferences!“ und „Are there not dumb cunts in this world?„) kann dabei schon einmal vor den Augen verschwimmen und hinter der für die Band klassischen Proberaum-Smalltalkkritik-Einleitung stattfinden.

Freilich kann man ‚Try Me‚ danach pikiert ankreiden, dass die direkte Präsenz und klangliche Weite der Live-Erfahrung Self Defense Family auf Tonträger nur im Ansatz eingefangen und konserviert werden konnte. Muss man aber nicht: weil „your favorite band’s favorite band“ sich mit ihren „eschewing sing-alongs and easy anthems in favor of personal lyrics“ (stimmt alles so!) wieder einmal ein Stück weit neu erfunden haben, gewachsen sind und eine der spannendsten, organischsten Kombos der Szene (und darüber hinaus) bleiben. Den traditionsbewussten, klassischen Post-Hardcore haben aktuell jedenfalls nicht einmal die Kollegen auf Dischord derart zwingend drauf haben.

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2 KommentareKommentieren

  • Oliver - 20. Dezember 2013 Antworten

    Naja, eine Krücke – aber damit sollte ja nur verdeutlicht werden dass ‚Try My‘ in jeder Hinsicht viel eher an den Wurzeln des Genres dran ist als an den Auswüchsen, die heute oftmals unter dem Banner Post-Hardcore firmieren.

  • Oliver - 20. Dezember 2013 Antworten

    „find ned dass self def auf der plottn noch recht viel mit (…) post-hc zu tun haben.“ – ja, das ist dann wohl wirklich Ansichtssache. 🙂

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