Björk – Utopia

von am 4. Dezember 2017 in Album

Björk – Utopia

Die klaffende Wunde am Herzen, die der schmerzhaft dystopische Vorgänger Vulnicura behandelte, scheint endgültig verheilt. Zeit also für Björk, auf ihrem zehnten Studioalbum die Utopie des kommendes Matriarchats zu erträumen. Gegebenenfalls auch mit Pauken Flöten und Trompeten Flöten.

My healed chest wound/ Transformed into a gate/ Where I receive love from/ Where I give love from.“ singt Björk im mystisch entschleunigten The Gate, das sich über einen entrückten Homogenic-Vibe lose um einen aus Raum und Zeit gefallenen Quasi-Refrain schmiegt. Der diese Reise mit Björk gemeinsam bestreitende kongeniale Produzentenspezi Arca lässt die schnappenden Beats dazu abgedämpft wie in weiter Ferne pulsieren, Ansätze von Melodien und Hooks wie flüchtige Visionen vorbeidriften.
Es macht durchaus Sinn, dass Björk diese unwirklichen, kaum zu fassenden sechseinhalb Minuten als erste Auskoppelung für Utopia vorausschickte. Einerseits sind das durchaus griffiger eröffnende Arisen my Senses (das mit den elektronischen Ingredienzen von Arca wie ein versöhnlicher Nachklang vom 2015-Geniestreich Vulnicura anmutet, der durch ein märchenhaftes Instrumentarium aus Harfen und verspult ratternden Rhythmen schweift) sowie der friedlich wattiert streichelnde Balsam Blissing Me noch mit einem gewissen Abnabelungsprozess zur jüngeren Vergangenheit beschäftigt, andererseits öffnet erst The Gate über seine Geburtsmetaphern den schillernden, faszinierenden und andersweltartigen Klangkosmos, durch den Björk hier über knapp 72 aus Raum und Zeit gefallene Minuten wie eine neugierige Gottheit schlendert.

Schon im folgenden Titelsong tänzelt Björk also durch ein Wirrwarr aus Samples und allgegenwärtigen Flöten. Das epochal Herzstück Body Memory faucht, ist aber vor allem eine kontemplativ walzende Meditation, ein optimistisches Gegengewicht zu Swan Lake, das sich in jeder Strophe neuen Herausforderungen stellt, aber mit den chorgeschwängerten Refrains Kraft und Zuversicht tankt: „Then the body memory kicks in/ And I trust the unknown/ Unfathomable imagination/ Surrender to future„.
Damir führt dieser Leviathan dezitiert vor, dass Utopia betont anders arbeitet als Vulnicura. Björk empfängt den Hörer 2017 eher als Besucher in ihrem Reich, als dass sie ihn zu emotionalen Reaktionen zwingt; sie berieselt bisweilen eher mit vage bleibenden Motiven und flüchtigen Ideen, lässt konturlose Umrisse lose übereinanderfließen und agiert damit eher berauschend und sanft berührend, als sie in ihren aufwühlend dramatischen Momenten sonst zu ergreifen weiß.
Es bleibt im Fluss insofern wenig konkretes hängen, oftmaliges Hören erzeugt eher einen verschwommenen Déjà-vu Effekt in der dichten Atmosphäre. Dass Björks Art zu erzählen und zu phrasieren (samt stellenweise arg forciert wirkenden Fake-Akzent) innerhalb ihres eigenen Schaffens mittlerweile etwas austauschbar geworden ist und die 52 Jährige auf Utopia insofern phasenweise gar ein wenig auf Autopilot zu intonieren scheint, macht die Sache im relativ Hook-befreiten Wandern nicht einfacher – Songs wie das scheinbar ziellos komponierte Claimstaker funktionieren in ihrem suchenden Wesen auch deswegen außerhalb des Kontextes sogar kaum.

Stattdessen folgt man eher dem inhaltlichen roten Faden im nahtlosen Auf und Ab der Kompositionen. Wo Courtship hibbelig pulsierend zuckend springt, übernimmt Loss sich selbst in den Ruhepuls führend. Sue Me hätte ein neue Dogmen einführender Singalong werden können, doch Arca verführt ihn auf Sub-Bass Level: „Who took it from his father/ Let’s break this curse/ So it won’t fall on our daughter/ And her daughter/ And her daughter/ Won’t let this sink into her DNA/ …/ It’s so unfair/ The sins of the fathers/ They just fucked it all up„.
Der Keim für die Tabula Rasa ist damit jedoch gesetzt. Björk schiebt bis auf ihre Flöten alles beiseite („Clean plate: Tabula rasa for my children/ Let’s clean up: Break the chain of the fuckups of the fathers/ It is time: For us women to rise and not just take it lying down/ It is time: The world is listening„), driftet ätherisch in Schüben und findet ein kurzes Paradiso, das aufgedreht beruhigend flimmert und dabei bezeichnenderweise ohne Worte auskommt.
Erst Saint legt sich für seinen Refrain in herzerweichende Arrangements, die die Schönheit von Björks Utopia tatsächlich konkret aufblitzen lassen – wie dankbar man sich doch zu diesem Zeitpunkt bereits an derartigen Oasen labt. Ähnlich erfüllend auch die so unendlich fragil und vorsichtig ausgebreitete Zukunftsperspektive Future Forever, die mit einem sanften Optimismus gefangen nimmt und mit einer vagen Versöhnlichkeit entlässt, die der exzessiven Flötenexzess zuvor nur selten gewähren lässt: „Hold fort for love forever„. Die Katharsis liegt für Björk ganz klar im Finden und Zulassen neuer Liebe, Utopia ist das Ökosystem dafür.

Alles hier wächst und gedeiht deswegen mit Fordauer imer selbstverständlicher, entfaltet eine unheimlich dichte, sich aber auch einige leere Meter und mäandernd naiven Wohlklang gönnende narrative Linie – ein homogener in sich geschlossenes, bewusst auf herausragende Highlights, markante Einzelszenen oder gar entgegenkommen catchy packendende Schmissigkeiten verzichtendes Album hat Björk vielleicht noch nicht aufgenommen. Was sich übrigens auch anhand der Tatsache rekonstruieren lässt, dass sich Utopia rein musikalisch in umgekehrter Reihung der Trackliste mindestens ebenso stimmig verfolgen ließe, wie in der regulären. Hier steht das große Gesamte schließlich über allem, ganzheitliche Eindrücke formen die losen Spannungen einer Platte, deren größter Trumpf die am Stück entfaltende Gravitation ist, in der man sich nur zu leicht verlieren kann – und eventuell auch soll.
Pop ist das jedenfalls nur noch im ambientesten Sinn. Man muss sich von Utopia, das über sein Ambiente und die Ästhetik im weitesten Sinne sogar eher wie eine transzententale Drone-Platte funktioniert, vollends umspülen lassen, um abstrakte Ansatzpunkte finden zu können. Björk schafft damit vielleicht in einer Konsequenz und Radikalität die ambiente Soundwelt, um sich als fremdes Zauberwesen der Musikszene kompromissloser denn je entfalten zu können.
Vulnicura was about a very personal loss, and I think this new album is about a love that’s even greater. It’s about rediscovering love – but in a spiritual way, for lack of a better word.“ sagt die Isländerin, fasst Utopia damit aber tatsächlich so ideal mit einer simplen, kompakt formulierten Klarheit ein, die so eben nicht in der Natur dieser vierzehn untrennbar miteinander verbundenden Mosaikstücke liegt.

 

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