Nick Cave and The Bad Seeds – Ghosteen

von am 16. Oktober 2019 in Album

Nick Cave and The Bad Seeds – Ghosteen

Ein esoterischer Hoffnungsschimmer: Nick Cave lässt die Trauer über den Tod seines Sohnes Arthur nicht hinter sich, findet auf dem Ambientwerk Ghosteen in unmittelbarer Reaktion auf Skeleton Tree aber womöglich einen Weg, um mit dem Trauma zu leben.

Sein 17. Studioalbum soll laut Cave sogar eine weitreichendere Symbiose eingehen und über den Nachhall von Skeleton Tree (2016) hinausragend eine zu Push the Sky Away (2013) zurückgreifende Trilogie bilden.
Was in der stilistischen Evolution der drei Platten durchaus Sinn ergeben kann. Auch wenn das „davor“ veröffentlichte Push the Sky Away thematisch weitläufiger war und der Konsum von Skeleton Tree im Gegensatz dazu – wie nun auch das alleine durch die Titelgebung kaum in einem anderen Kontext wahrnehmbare Ghosteen – bereits ausnahmslos unter dem Eindruck des Ablebens von Arthur Cave stattfand, bot auf stilistischer Ebene ja erst die Bereitschaft von Push the Sky Away zur Ruhe und Reduktion den Nährboden für die noch konsequentere Reduktion auf Skeleton Tree – aus der wiederum knapp drei Jahre später ein Doppelalbum erblüht, dass das Trauma in Grunde überhaupt erstmalig in voller Konsequenz beleuchtet.
Immerhin muss man sich bei der historischen Verortung in Erinnerung rufen, dass die Musik zu Skeleton Tree ja bereits geschrieben war, als Cave von der wahrscheinlich größten Tragödie seines Lebens ereilt wurde, er damals „nur“ noch einen Gutteil der Texte auf die letzten Meter adaptierend improvisierte, um das Unglück impulsiv zu reflektieren. Erst Ghosteen schöpft von Grund auf die (auch mit ein bisschen Abstand) aufgestauten Emotionen ab und setzt den Verarbeitungsprozess fort.

Die Platte mutet dabei entgegen Caves eigener Prognose wie eine direkte und konsequente Fortsetzung des aufgelösten Narrativs vom semi-selbsttherapeutischen Vorgängerwerk an, folgt einigen der selben Stilmittel und Motive, die durch den konzeptuellen Hintergrund aus thematischen „Elternteil“ (die überlangen Stücke der zweiten Plattenhälfte)  sowie ihren kompakter vorauseilenden „Kindern“ unverrückbar verankert sind, und teilt sich auch die neu gefundenen Arbeitspraktiken im Entstehungsprozess.
Erst eine kreative Pause konnte „a new sort of lyrical confidence to a process of enforced shutdown“ finden: Cave schrieb und komponierte nicht mehr wie üblich in seinem Büro, sondern zuhause, und provozierte durch diesen Ausbruch aus der zur Tradition gewordenen Routine im Songwriting eine impulsive Schreibweise – „amassing a stockpile of lines and thoughts, images and ideas. The idea that we live life in a straight line, like a story, seems to me to be increasingly absurd and, more than anything, a kind of intellectual convenience… There is a pure heart, but all around it is chaos  way to write beyond the trauma… that deals with all manner of issues but does not turn its back on the issue of the death of my child„.

Diese Praktik ermöglicht Ghosteen einen Blick über den Horizont, der dem vergleichsweise aufgewühlten und brodelnden Skeleton Tree im Schock noch nicht möglich war – eine Sicht „beyond the personal into a state of wonder. In doing so the colour came back to things with a renewed intensity and the world seemed clear and bright and new.
Spätestens wenn Cave im finalen Hollywood über buddhistische Geschichten seine Trauer auch auf einer allgemeineren, universelleren Ebene betrachtet („Everybody’s losing someone/ Everybody’s losing someone/ It’s a long way to find peace of mind, peace of mind/ It’s a long way to find peace of mind, peace of mind / And I’m just waiting now, for my time to come/ And I’m just waiting now, for peace to come/ For peace to come.“) ist die nahezu bedingungslose Einkehr der 69 Minuten deswegen eben auch das Wachstum aus der Perspektive von Skeleton Tree heraus.
Ghosteen spannt insofern keinen übergreifenden Bogen, sondern ist der (prolongierte) Abschluß einer stilistischen Evolution, die eben vor der Tragödie beginnt, aber nicht außerhalb der Nachwehen dazu endet, sondern mit dem Ausblick darauf, dass eine Zeit „danach“ überhaupt möglich sein könnte. Weswegen das Album wohl in Form und Inhalt auch derart erschöpfend und ausführlich sein muß, um eine reinigende Katharsis zu schaffen, mag diese auch noch so friedlich sein. Ob der Rahmen um die Trilogie innerhalb der Bad Seeds’schen Diskografie nach hinten ebenso drastisch abgegrenzt ist wie davor mit Dig!!! Lazarus Dig!!! wird sich freilich erst zeigen müssen. Ein Comeback der Grinderman ist derweil bereits angekündigt – und könnte bandübergreifend für den frischen Wind sorgen, der nach Ghosteen wohl auch notwendig sein wird.

Schließlich sähen Cave und seine (zumeist damit beschäftigt unsichtbar zu bleibenden, selbst Warren Ellis im großen Ganzen destillierenden) Bad Seeds auf den minimalistischen Charakteristiken von Skeleton Tree entlang ähnlich strukturoffener Kompositionen Klangwelten, die sich beinahe ausnahmslos durch massiven Synthesizer-Einsatz definieren und im Score und Ambient verankert sind, sich an Tangerine Dream und ähnliche Freigeister schmiegen, als wäre I Need You aus seiner Form in den Äther aufgelöst worden. Es existieren abseits davon praktisch kaum Gitarre oder Schlagzeug, dafür exzessiver benutzte gespenstischen Chören aus den Reihen der Band, die man (allerdings in variabler, weniger frontal inszeniert) so ähnlich bereits von Rings of Saturn oder Anthrocene kennt. Cave konzentriert sich derweil immer wieder auf eindringlich Spoken Word-Passagen und dem sporadischen (und nur bedingt entgegenkommenden) Aufstieg ins Falsett, den man so weit nach oben strebend noch nicht von ihm gehört hat – zumal er auf der Suche nach Schönheit und Hoffnung auch vor purer kitschiger Anmut nicht zurückschreckt.
Alleine das Cover von Ghosteen ist diesbezüglich in direkter Relation symptomatisch, wenn es die dunkle Reduktion des Vorgängers nun in ein überkandidelt Photoshop-Land versetzt und auch die kühl-intime Artwork-Realität von Push the Sky Away in ein kunterbuntes Fantasieland verfrachtet, den Blick aus dem Dickicht auf die helle Lichtung lenkend.

Letztendlich steht und fällt das unendlich atmosphärische Ghosteen abseits seiner ganzheitlich einnehmenden Ästhetik jedoch mit der Qualität seines konturlos veranlagten Songwritings, das – um es vorwegzunehmen – sich phasenweise zu sehr in der erzeugten Stimmung verliert (oder eben: ganz bewusst verlieren muß, um seine Aufgabe zu erfüllen), sich auch durch wenig Varianz in den Arrangements in jedem Fall aber ein wenig sphärischen Müßiggang genehmigt, der nicht vollends die bisweilen zauberhafte Klasse der restlichen Platte (oder der Vorgängeralben) hält.
Die wunderbare Stafette aus Galleon Ship, dem tröstenden Ghosteen Speaks (der „I think my friends have gathered here for me“-Part ist übrigens pure Magie!) und Leviathan setzt alleine auf das erzeugte Ambiente, den ätherischen Fluß, der stets schleifenförmig spult und auch seine zärtlichen „Uhuhuuuu“ und „Aaahhh„-Chöre sowie wärmenden Streicher in verwunschenen Wellen auf- und ab-ebben lässt – aber an sich wenig passieren lässt. Weswegen man diese jeweiligen Songs (wie auch das im zweiten Teil folgende Fireflies als collagenhaft sinnierendes Stück Rezitation zwischen den beiden überlangen Monolithen der Platte fesselnd, aber nicht essentiell scheint) außerhalb des stimmige Bezugrahmens wohl nur selten für sich alleine stehend konsumieren wird.
Dass Ghosteen neben mehr Abwechslung oder etwaigen überraschenden Elementen (jenseits des Falsett) in der Inszenierung auch Kürzungen im aktiven Spektrum der transzendentalen Wahrnehmung durchaus gut getan hätten, zeigt sich später weiters beim Titelsong, der zuerst eine überragende Kathedrale aus erhebenden Orchesterparts und schweren Orgelklängen beschwört, sakral und weihevoll, sich in Zeitlupe durch märchenhafte Melodien und Breitwand-Harmonien zum Niederknien dreht. Sobald die Nummer aber nach und nach in dystopische Blade Runner-Klänge eintaucht, tauscht sie ihre majestätische Größe allerdings gegen eine introspektive Zurückgezogenheit, deren intimere Nahbarkeit nicht zwangsläufig eine ähnlich ergreifende Emotionalität erreicht, wie die Hälfte der Nummer, aber ähnlich ausführlich in dieser badet.

Trotz einiger Schönheitsfehler ist Ghosteen in Summe jedoch funkelndes Juwel geworden, das schlichtweg einige der schönsten Momente der balladesken Karriere der Bad Seeds bereit hält. Der eröffnende Spinning Song lässt rbeispielsweise etrofuturistisch geloopte Keyboarde einen melancholischen Soundtrack mit persönlich geprägten Storytelling, simpler Essenz („And I love you“, immer wieder) und gleißend-flehendem Finale formen, das tröstend in den Armen liegen lässt (und das Conclusio der Platte am anderen Ende bereits vorwegnimmt, also ungeachtet all der Trilogie-Pläne vor allem in sich selbst geschlossen ist): „Peace will come, a peace will come, a peace will come in time/ A time will come, a time will come, a time will come for us.
Das  überragend-brillante Bright Horses beginnt wie eine Horner’sche Fahrt auf der Titanic und endet in der rauchigen Romantik von Tom Waits – ist dazwischen mit vorsichtigem Orchester und leisem Piano eine schier unwirklich feingeistige Anmut, überwältigend schlichtweg, zu der Cave in den schwersten Momenten röchelt wie Cash und Cohen im Alter, gebeutelt und doch optimistisch. Waiting for You ist eine sehnsüchtige Klavierballade im Stile von The Boatsman Call und Night Raid ein fast klerikal entschleunigter Gospel ohne Tempo, dessen Tastenschläge abgedämpft zu bimmeln scheinen, im Chor aufgehend, mäandernd und alleine von den exemplarischen Arrangements lebend den Soul suchend. Sun Forest plätschert danach knapp zwei Minuten als esoterischer Ethno-Traum, wächst sich dann aber als eines der Highlights in einer trauriger Elegie, mit Visionen von Sigur Rós schwanger gehend.

Diese phasenweise nahezu perfekten Szenen schaffen dann natürlich auch eine überlebensgroße Fallhöhe für ein Gesamtwerk, das einen überstrapazierten MO zuletzt doch noch hinter sich zu lassen versucht und in die vage Ahnung einer Aufbruchstimmung gerät. Das abschließende Hollywood untertaucht seine dystopischen Synthies schließlich mit einem zurückgenommenen Bass, der wie eine gurgelnde Erinnerung an bösartige Gemeinheiten a la Babe, I’m on Fire in Trance erinnert. Doch Cave dirigiert das nautisch schweifende Orchester zu einer subversiv treibenden Rhythmussektion. Er flüstert beschwörend, eindringlich, lässt das Gefüge trotzde der verhältnismäßig militärischen Strenge der ganz weit hinten stattfindenden Drums aus der taktischen Ordnung geraten. Der Gesang des 62 Jährigen entwickelt sich immer mehr zu einem theatralischen Fisteln, das eine gewisse Distanz zu den ansonsten so wohlklingenden, reinen Emotionalität forciert und der inneren Unruhe der Nummer eine (irritierende) Ebene hinzufügt, für dessen erhebenden Plateau Cave diesmal offenbar keine Gastsängerin verantwortlich zeichnen lassen wollte – mag es auch auf Kosten des dezitierten Klimax gehen.
So verglüht das Schlußstück ohne tatsächlich erfüllenden Ausbruch, beschließt (mutmaßlich) jedoch nichtsdestotrotz ein absolut triumphales, weil veröffentlichungstechnisch nahezu makelloses Jahrzehnt in Caves Karriere mit dem doch schwächsten Teil der Trilogie und entlässt zudem ein bisschen orientierungslos: Das kreativ erschöpfende Ghosteen kann Hoffnung geben, aber keine tatsächliche Erlösung erzwingen. Was danach kommen wird lässt sich nicht erahnen.

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