Tyler Childers – Long Violent History

von am 17. Oktober 2020 in Album

Tyler Childers – Long Violent History

Zu den 2020 im medialen Fokus wie selten zuvor stehenden sozialpolitischen Situation in den USA rund um Black Lives Matter und gravierende Polizeigewalt wollte Tyler Childers nicht schweigen – und hat mit dem Überraschungsmoment Long Violent History ein weitestgehend rein instrumental gehaltenes Statement aufgenommen.

Weil der Nachfolger von Bottles & Bibles, Purgatory und Country Squire auf acht von neun Songs ohne Texte auskommt, schickt Childers neben einer Introduction von Dom Flemons auch ein ausführliches Statement per Videobotschaft zu Long Violent History aus: „Back in June when I wrote the song ‘Long Violent History,’ it was my original goal to continue to make fairly legible sounds on fiddle, and put this album out with no announcements or press. I planned to package it as an old-time fiddle album, and let the piece make the statement on its own, taking the listener by surprise at the end. However there has been concern that the album could run the risk of being misinterpreted if not given some sort of accompanying explanation to set it in context.

Vielleicht nicht die schlechteste Idee, um die Fronten schon vorab zu klären. Immerhin zieht Childers die zutiefst traditionellen Songs der Platte danach so locker und lebendig aus dem Ursuppen-Bluegrass, Old Times-Sound und der Appalachian Folk Music, lässt alles ausgelassen und unbeschwert aufdrehen, wenn die fidele Fidel als dominantes Instrument um fingerpickende Banjos dem beschwingten Rhythmus folgen und gerade zum Beginn mit Send in the Clowns oder Sludge River Stomp stark und charakteristisch komponiert: Ein gelöster Tanz in der Scheune, eine Sammlung an Mood-Pieces, die den Zuhörer in das passende Ambiente für den finalen Song versetzten. Weswegen es mit dieser Intention auch in Ordnung ist, die Message der Platte ohne Hintergrundwissen hier kaum erahnen zu können , zumal Long Violent History im Mittelteil latent in eine Beliebigkeit mit viel Klasse abtaucht.

Das ändert sich auf die letzten Meter schlagartig. Wo Childers sich üblicherweise selbst ja nicht zu ernst nimmt, und die Platte hinter ihrer technischen Makellosigkeit und den Dank seines Backingband-Gitarristen Jesse „The Professor“ Wells neu gewonnen Fähigkeiten an der Fidel vor allem mit einer zwanglosen Nonchalance besticht, die auch als Fingerübung gedeutet werden kann, versteht er im Titelsong keinerlei Spaß mehr – und trifft in seiner Anklage über über die Privilegien des weißen Mannes und systematischen Rassismus umso schonungsloser.
Childers nimmt im besten Song der Platte alles Tempo schunkelnd raus, legt eine flehende Melancholie über die Szenerie und gibt mit einer seiner besten Gesangsleistungen seine Meinung kund, im Wissen, nicht in der Position zu sein, die Zustände außerhalb seiner Nachbarschaft tatsächlich beurteilen zu können. „As a recovering alcoholic who has drunk and drugged himself around the world playing music for the better part of eleven years, and now has six months of sobriety, I can say with clarity, that I have no soap box to stand on, to talk preachy to anyone on anything, be it the word of God, or the condition of the world.“ sagt Childers und singt Zeilen wie „In all my born days as a white boy from Hickman/ Based on the way that the world’s been to me/ It’s called me belligerent, It’s took me for ignorant/ But it ain’t never once made me scared just to be/ Could you imagine just constantly worrying/ Kicking, and fighting, and begging to breathe.“ Während die ersten 30 Minuten der Platte also vor allem Ausdruck der instrumentalen Fähigkeiten des Neo-Fidlers Childers sind und eher als Kentucky-Backgroundmusik dienen, haben diese abschließenden 3 Minuten (leider) ein zeitloses, erschütterndes Gewicht.

Print article

Kommentieren

Bitte Pflichtfelder ausfüllen