Wire – 10:20

von am 27. Juni 2020 in Compilation

Wire – 10:20

Nicht, dass die vergangene Dekade derart gut zu Wire war, dass es ein Zusammentragen etwaiger Ausschussware gebraucht hätte. Diese gibt es nun in Form von 10:20 zum Record Store Day gewissermaßen dennoch – was erstaunlicherweise absolut okay geht.

A glimpse into Wire’s working practises. When Wire play live there are 3 different classes of pieces that are performed; new songs, old songs and ‘new old’ songs. The best of these ideas have been recorded in 2 sessions for this release – one relating to ‘Red Barked Tree’ but recorded in 2010 and another relating to Wire’s latest album ‘Mind Hive’ released in 2020 – hence the title.
Der Titel der Platte ist also durchaus pragmatisch zu verstehen: Die ersten vier Songs kann man alle von der 2010 (in limitierter Auflage) veröffentlichten Strays-EP kennen, damals noch mit Margaret Fielder von Laika auf der Besetzungsliste; der Rest ist eine mehr oder minder Standpunkverortung, wenn auch anhand einer nominellen Resteverwertung.
Tatsächlich geht 10:20 aber ohnedies weiter und interpretiert auch einige Songs aus dem Backkatalog der Band „neu“, ist also in Summe gewissermaßen sowohl Compilation als auch Werkschau aus einem alternativen Blickwinkel- wohl am erstaunlichen aber zudem eine für sich überraschend kohärent funktionierende Songsammlung, die ein schlüssigeres Ganzes ergibt, als so manches reguläre Wire-Studioalbum in der vergangenen Dekade (und darüber hinaus).

Boiling Boy kennt man ursprünglich vom 1988er Album A Bell is a Cup… Until it is Struck – mittlerweile ist aus der Nummer eine weiche Annäherung des Krautrock an die hoffnungsvoll perlende Perspektive des Postpunk geworden; gleichzeitig motorisch, monoton und weich. Die zappelnde Hi-Hat lässt irgendwann die Zügel härter pochend los und die Verstärker knistern, behält sich aber seine optimistisch offen schrammelnde Dynamik bei – ein guter Opener!
German Sheperds (zuerst auf It’s Beginning To And Back Again von 1988 vertreten) definiert sich über den hibbeligen Bass und die Jangle-Gitarren als ein unverfänglich aus der Zeit gefallener Poprock, der nicht zum Punkt findet und He Knows ist annähernd geduldiger 80er Wave, als würden kontemplative Killing Joke in Lauerstellung einen nautischen Bass ausführen, der immer wieder andeutet, sich einem catchy aufmachenden Refrain zu öffnen, dessen Detonation jedoch mit spitzbübischem Charme hinausgezögert und letztendlich auch verweigert.
Underwater Experiences lässt sich bereits in einer Demoversion auf Sessions zum 1978-Zweitwerk Chairs Missing finden und tauchte danach immer wieder formwandelnd im Kosmos der Band auf. 2020 klingt der Song aufgekratzt, nervös pochend, hämmernd, punkig, hastig, simpel – und fällt mit seiner noisigen Ästhetik leider doch aus dem Rahmen.

The Art of Persistence (unbeschwerter Alternative Rock in luftig und nicht zu ambitioniert) hätte es auf der The Third Day-EP geben sollen, dazu existiert eine Liveversion auf dem Bootleg Recycling Sherwood Forest, während Small Black Reptile seine Wurzeln auf dem 1990er Album Manscape schlägt – hier übernimmt die Nummer praktisch ansatzlos, weil Wire mittlerweile einen über Achtel-Synthies twistenden Shaker aus dem Stück gemacht habe. Schade nur, dass Small Black Reptile stellvertretend für alle Songs hier immer zu zwanglos bleiben, keine radikalen Umbrüche oder Entwicklungen forcieren, sondern sich weitestgehend mit einer Grundidee zufrieden geben. Auch nachzuhören auf Wolf Collides, das auf Silver/Lead von 2017 keinen Platz hatte, träumend und romantische jedoch nicht über die solide Routine hinaus möchte.
Am besten ist deswegen auch das abschließende Over Theirs (von The Ideal Copy), das düster und schwer über neun Minuten in den Spacerock und Jam abhebt, und die Wahrnehmung von 10:20 mit seinen strukturoffenem Wesen noch einmal schärft: Macht man nicht den Fehler, Wire stets an ihren ersten drei Alben zu messen, findet man in dieser Band über die 80er hinausgehend wohl einen zuverlässigen Begleiter jenseits aller Trends, Spektakel und Geniestreichen.

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