Die Wirklichkeit – Alles nur Psyche

von am 28. Mai 2014 in Album

Die Wirklichkeit – Alles nur Psyche

Giftiger Noiserock aus Deutschland liegt spätestens seit Die Nerven und ‚Fun‚ im Trend. Die Wirklichkeit aus Solingen nutzt den sich auftuenden Windschatten geschickt um auf ‚Alles nur Psyche‚ stilsicher aufzuzeigen.

Die Nerven im Quizduell gegen Die Wirklichkeit. Auf die Frage wann denn Sonic YouthGoo‚ veröffentlicht hätten bleibt es auf Seiten den Solinger zunächst still. Als Zuseher denkt man sich: irgendwie klar – ‚Alles nur Psyche‚ speist sich mutmaßlich ja auch viel eher aus der Frühphase von Kim Gordon und Co. als deren Lärm gefühltermaßen noch weniger Avantgarde und dafür Ausdruck einer abgrenzenden Wut waren. Wo man (trotz ‚Asoziale Medien‚ im Hinterkopf) gelernt hat Melodien aus den Abgründen der Dissonanz zu fischen, Spannungen aus fiesen Lärmausflügen aufbaut oder Songs streunen lässt und dabei die Zügel eng aber nicht versteift hält, daraus macht Die Wirklichkeit von Beginn an keinen Hehl, wie da die Gitarren schrammeln, stechen und blinken: alles taumelt und vibriert hitzig, das Wechselspiel aus Schleifen lassen und zupacken hat man verinnerlicht, während Sänger Malte immer ein wenig unterkühlt skandiert und skandiert und in weiterer Folge wie selbstverständlich mit Textfetzen an Ton Steine Scherben, Tocotronic oder Peter Schilling vorbeischrammt. Weniger selbstverständlich: dass, wenn ‚Beobachtungen Um 4 Uhr Morgens‚ nach gerade einmal 3 Minuten bereits wieder vorbei ist das Verlangen geweckt wurde, dass die Jungs hier mal ruhig länger machen und gerne ins Impro-Nirwana abdriften hätten dürfen – da hat jemand seine Hausaufgaben also gemacht: derartiger Exzess stünde ja bekanntlich nicht jedem.

Stattdessen entfalten sich auch die folgenden 6 Nummern kompakt, geizen aber nicht sich zahlreiche Facetten abzuringen: ‚Ihr‚ ist eine Séance der Misanthropie, in ‚Stolper‚ bildet stoischer Postpunk das Grundgerüst für eine hektisch getriebene Rezitationsabfahrt und ‚Staubfrei‚ rockt sich im Refrain immer wieder aus seiner verschlossenen Hülle hervor, kratzt sich letztendlich nur zu gerne selbst den Lack ab. Immer wieder bleibt da freilich die Vermutung dass das alles live gleich nochmal ne Kante stärker reinhaut – diesbezüglich kann man sich wohl getrost auf Augenzeugenberichte verlassen.
Geld und deine Augen‚ werkelt dagegen regelrecht geradlinig, der Spaß am Radau kollidiert mit einer (freundlichen? zynischen?) Singalong-Melodie (dass Die Wirklichkeit mit Mile Me Deaf auf Tour waren ist also kein Zufall) in die jeder mal miteinstimmen darf, im schiefen Finale findet sich gar noch Platz für ein Solo. Ein weiteres solches, sogar noch besseres, gibt es im zurückgelehnt grooveden ‚Sommerhit ’13‚, der sich genüsslich immer weiter verdichtet, bis die Gitarre  plötzlich herrlich kaputt Richtung Wüste dröhnt und jault.

Nicht immer gelingt es der Wirklichkeit die aufgestauten Spannungsbogen derart befriedigend zum Einsturz zu bringen: Das tolle ‚Wand‚ täuscht Shoegaze an um doch lieber konstant aufs Gaspedal zu treten, zeigt im groß angesteuerten Finale aber dezente Ermüdungserscheinungen. Nicht dass Die Wirklichkeit hier einknicken würde – aber offenbart sich in der letzten Minute doch, dass die Band noch nicht am Limit unterwegs ist, die vorhandenen PS nicht zu jedem Zeitpunkt ohne Energieverlust auf den Boden bringt – im konkreten Fallbeispiel auch, weil die Gesangsleistung nicht immer so mitreißend gelingt wie die zwischen Spontanität und Vielschichtigkeit fein orchestrierte instrumentale Seite von ‚Alles nur Psyche‚. Gerade aber auch die Tatsache dass Die Wirklichkeit hier (noch) nicht mit Formvollendung werkt macht einen Gutteil des immanenten Charmes der Platte aus, weswegen man ihnen nach diesen kompakten 28 Minuten allerdings kaum etwas ankreiden möchte (und zwischen den Wertungen unentschlossen durchaus guten Gewissens aufrunden darf). Im Hier und Jetzt reklamiert ‚Alles nur Psyche‚ schon mal einen Platz unter den stärksten deutschsprachigen Veröffentlichungen des Jahres, funktioniert vor allem aber auch als aussichtsreiches Versprechen, dass man sich um den Noiserock im Nachbarland auch nach dem vermeintlichen 2014er-Hype keine Sorgen machen muss.
Besonders hartnäckige Optimisten werden es eventuell gar als Zeichen sehen dass Die Wirklichkeit für die ‚Goo‚-Frage im Endeffekt die Punkte abgestaubt haben. Alle anderen sollten das Quartett zumindest auf der Rechnung behalten.

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