Dälek – Precipice

von am 16. November 2022 in Album

Dälek – Precipice

Precipice, das erste Album der Industrial/ Experimental-Hip Hop-Institution Dälek seit dem 5 Jahre alten Endangered Philosophies, ist doch tatsächlich mehr noch als sein Vorgänger bereits ohnedies schon eine erstaunlich zugängliche – oder zumindest leichter verdauliche – Angelegenheit geworden!

Bevor MC Dälek und Mike Manteca (Mike Mare) auf den letzten Metern des achten Studioalbums der stilprägenden New Jersey-Plattform doch zum – Achtung, trotz des ohnedies unheildrohenden Plattentitels: Spoiler! – Twist in den menschenfeindlichen Nihilismus ansetzen, zeigt sich jedenfalls, dass Will Brooks sich vor allem mit ambienten Soundscapes und atmosphärischen Soundtracks durch die Pandemie gerettet hat, denn Precipice eröffnet dort weitermachend in Form von Lest We Forget mit einem erstaunlich hoffnungsvoll scheinenden Drone, der irritierend optimistisch und weich im Dunkeln schimmernd durch seine instrumentale Welt holt.
Danach bieten Dälek im Grunde eigentlich keine tatsächlichen Überraschungen, pflegen ihren Trademarksound, tun dies aber eben fast schon auf eine, tja, angenehme, weniger verstörende Weise – kann man die Easy Listening-Komfortzone bei Dälek überhaupt so nennen? Wie dem auch sei: die Produktionen der Oktopus-Zeiten bleiben zwar unerreicht, aber das Plus an sphärischer, tiefenwirksamer Stimmung, die all die dunkle Heaviness zumindest in Relation zur bisherigen Diskografie betörend erscheinen lässt, kann Precipice sogar zum Favoriten nach der Wiedergeburt der Band machen – schließlich stimmt auch die Langzeitwirkung.

Boycott walzt in kontemplativer Trance mit seinem hypnotischen Groove über einen Hybrid aus jazzigem Noise, der bis in die Nostalgie diffuser Erinnerung-Fetzen reicht: Dälek artikulieren die abstrakte, strukturfrei und formoffene Sogwirkung für  den sozialpolitisch angetriebenen Rap, brodeln wütend und trotz offenkundiger Unangepasstheit subversiv. Decimation (Dis Nation) treibt im grieseligen Rhythmus mit einem geschmeidigen Flow bis in den Shoegaze reichend und Good gibt sich sogar vergleichsweise catchy, als hätte man einen klassischen Boom-Bap durch den nebulösen Dälek-Filter gezogen – kurz, prägnant und kompakt, wie hinter einem Schleier ätzend.
Holistic hat eine so unaufgeregte Geduld in der bedächtigen Bewegung, nutzt Ethereal Wave-Vibes für melodische Facetten, derweil gleichzeitig permanent eine sedative Lethargie mit meditativer Repetition mitschwingt. The Harbingers schleppt sich ähnlich müde, die Bars skandieren mit einer abgekämpften Resignation, der der Track sich und die Vocals immer weiter in seinem Klangkosmos aus Reverb verliert: die physische Präsenz der Band hat sich knapp zweieinhalb Dekaden nach dem Debütalbum jedenfalls merklich verändert. Wer Dälek insofern (und angesichts der wenig radikalen Mutationen durchaus nachvollziehbarerweise) als One-Trick-Pony kategorisiert, könnte eventuell nur die Oberfläche der Gruppe im Wandel der Zeit wahrgenommen haben.

Wie zu Demonstrationszwecken erzeugt die mysteriöse Klangcollage Devotion (when I cry the wind disappears) eine wahrhaftig anmutige Schönheit, deren Optimismus verhalten schimmernd in einer finsteren Welt schlurft, und selbst dann noch stoisch wandert, wenn Brooks schon verstummt ist. Und in A Heretic’s Inheritance verpasst Tools Adam Jones der Textur ein halluzinogenes Mantra, das aus der Homogenität ein wenig aufzeigt, und den schmalen Grad zwischen auslaugender Monotonie und fesselnder Hypnose ideal beschreitet. Trotzdem wird langsam klar, dass die vermeintlich heile Welt der musikalischen Kulisse Risse bekommt.
Der Titeltrack wirkt schließlich, als würde MC Dälek (der an den Sound angepasst keine so aggressiv grollend zupackende Performance mehr zeigt – was man schon auch schade finden kann) in einem heimeligen Bunker sitzen, während rund um ihn die Apokalypse zu toben beginnt, doch der Sturm vorerst nur erahnbar bleibt. Auch Incite sucht nicht unbedingt die frontale Konfrontation, ist aber dezidiert kein versöhnlicher Abschied, sondern gewichtet die ungemütliche Aggression eindringlicher, als einen Precipice zuvor in vermeintlicher Sicherheit gewogen hat: der Dälek‘sche Realitätsabgleich ist eben immer noch keine Streicheleinheit, sondern Schocktherapie – mag sie sich auch weniger schmerzhaft zu ertragen sein.

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