Tocotronic – Wie wir leben wollen

von am 29. Januar 2013 in Album

Tocotronic – Wie wir leben wollen

2 Jahrzehnte nach der Bandgründung erfinden sich Tocotronic wieder einmal ein Stück weit neu, auch, weil knappe 18 Jahre nach ‚Digital ist besser‚ analog doch am besten ist und die Hamburger Institution damit nicht nur in ungekannten Soundwelten angekommen ist, sondern bereits vorsichtig andeutet ihr Alterwerk in greifbarer Nähe zu erkennen.

So ausufernd sich der aus der Zeit gefallenen wirkende, 70 minütige, also in all seiner inszenatorischen Vielfalt auf Überlänge ausgewälzte Monolith ‚Wie wir leben wollen‚ letztendlich auch gibt – am Ende wird das zehnte Tocotronic alleine schon wegen seines einzigartigen Klangbildes absolut homogen und schlüssig zusammengehalten. Nach der Integration von Zweitgitarrist Rick McPhail und dem kongenialen Händchen von Produzenten-Guru Moses Schneider erweist sich die aus dem Jahr 1958 konservierte Telefunken-T9-Vier-Spur-Tonbandmaschine als nächster Glücksfall für den Soundkosmos der Hamburger Rockband. ‚Wie wir leben wollen‚ durchzieht dank der eher eben eher anachronistischen denn altmodischen Produktionsweise ein beispielloser warmer, dichter Hall, ein Schleier der Vergänglichkeit liegt über jedem Ton, selbst den rockigsten Nummern wie ‚Ich will für dich nüchtern bleiben‚ wohnt so eine elegant ausformulierte Gemächlichkeit inne.

Dem Spätwerk eines Bob Dylan oder Bruce Springsteen nicht unähnlich, fühlen sich Tocotronic dabei nicht selten als mal mehr, mal weniger subtile Chronisten der Pop- und Rockgeschichte wohl. Die Nico & The Velvet Underground-Referenz in ‚Vulgäre Verse‚, dem insgeheim besten Element of Crime Song seit langem, oder die tiefe Verneigung vor den Rolling Stones im mit viel „Whoo-Whoo“ und Damenunterstützung rumpelnden ‚Exil‚ drängen sich förmlich auf – wer die Lupe auspackt darf ‚Wie wir leben wollen‚ auch als gefinkeltes Suchbild der zeitgeschichtlichen Assimilierung verstehen. Darüber hinaus machen die stetig getätigten Beatles– und Beach Boys-Vergleiche weniger hinsichtlich der eingeschlagenen Grundlinie Sinn, als im Sound und der ähnlich genau und akkurat ausgearbeiteten, aber immer leger einhermaschierenden Spontanität der abwechslungsreichen Kompositionen. Der Intensivierung des Organischem im Klangbild folgend schlagen auch die Texte Dirk von Lowtzow’s den Blick Richtung Körperlichkeit und Thematisierung der eigenen Vergänglichkeit.

Knapp drei Jahre nach „Und von heute an leben wir ewig“ heißt es also „Hey, hey, hey, ich bin jetzt alt /Hey, hey, hey, bald bin ich kalt!“ im hastenden Groove von ‚Im Keller‚. ‚Vulgäre Verse‚ geht noch weiter, „Als lebender Leichnam glaub ich daran/ The Show Must go on!„, und während Rick McPhail seine Gitarre im getragenen Titelsong am Drone vorbeiziehen lässt ist von Lowtzow nur Eindringling im eigenen Körper. Der geheimnisvolle Unterwassertanz mit Schlußpointe ‚Die Verbesserung der Erde‚ malt Krankheiten an die Wand, demnach der „Bleiche Mann der tanzt“ dann in ‚Exil‚ fordert: „Ich bin krank/ Schieb mich ab, wenn du willst„. Der Schrammelrock von ‚Die Revolte ist in mir‚ beherbergt Viren und Schwarze Löcher im eigenen Körper, bestimmt den Titel maßgeblich im Chor – dabei hat der entspannte Sommerschunkler ‚Abschaffen‚ – den Sonic Youth so wohl nie schreiben wollen werden und auch Yo La Tengo unlängst ausgelassen haben – noch propagiert: „Die Revolution wird zuletzt den Tod abschaffen„.

Drumherum arrangieren Tocotronic eine schier unerschöpfliche Spielwiese der Möglichkeiten: neben beinahe Konventionellen unter all dem sanften, melancholischen Delay und den unmuskulösen Rock-Echos, wie der countryesk stampfenden Pedal Steel in ‚Chloroform‚ oder dem rhythmusorientierten Ohrwurm ‚Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools‚, dem gut gelaunt hüpfenden Popsong ‚Neutrum‚ oder dem bis zu seinem kraftvollen Ausbruch in den Sümpfen des experimentellen Krautrock watenden, unheimlich transzendierenden Meditationspaket ‚Warm und Grau‚ (Nomen est Omen!), dem läutenden Ringelspiel ‚Höllenfahrt am Nachmittag‚ oder dem unwiderstehlich stolpernden Hit ‚Auf dem Pfad der Dämmerung‚, der mit weichem Soul-Teppich gefühlvoll wandert, tummeln sich auch noch Chordun, Theremin und, und, und in den 17 Songs. Wahrlich: die kreative Sprengkraft der Songs detoniert auf ‚Wir wir leben wollen‚ stets nach innen, pulsiert beständig unter der Oberfläche des Tocotronischen-Poprock-Kosmos.
Trotz des dramaturgisch geschickten Kniffs ‚Wie wir leben wollen‚ im Aufbau in zwei spannungsgeladene Hälften zu spalten verwehren sich die Songs innerhalb ihrer Grenzen nicht einer gewissen Überstrapation; Längen entstehen phasenweise, einige verkürzende Einschnitte hätten dem Vergnügen wohl zusätzlich unter die Arme gegriffen. Letztendlich natürlich Jammern auf höchstem Niveau. Und im einnehmenden Rausch der Platte eigentlich auch nicht der Rede wert. „Möchtest du mich begleiten?/Als lebenswichtiges Organ“ singt von Lowtzow. Die Zeit wird zeigen, ob nicht der Hörer diese Frage an ‚Wie wir leben wollen‚ stellen sollte.

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