Kaatayra – Toda História pela Frente

von am 24. August 2020 in Album

Kaatayra – Toda História pela Frente

Eigentlich kennt man das Spiel aus dem Vorjahr: Caio Lemos alias Kaatayra legt einem superben Album innerhalb des selben Jahrganges kurzerhand ein ähnlich bestechenderes nach. Vielleicht steht Toda história pela frente gar am vorläufigen Schaffens-Zenit des so produktiven Senkrechtstarters?

Die interessantesten und irgendwo nachhaltigsten Facetten von Kaatarya waren ja (gar nicht so) insgeheim immer schon jene abseits des Black Metal – wenn der Sertanejo de raiz den Raum einnimmt und die lokale Identität des Südamerikaners prägend für seine Musik wird, ihm wohl auch einen originären Status Quo in der Szene garantiert.
Diesbezüglich hat das die Blastbeats mit ausnahmslos akustischen Saiten zäumende Só quem viu o relâmpago à sua direita sabe erst vor wenigen Monaten eine enorme Schärfung des Profils von Caio Lemos vorgenommen, doch Toda história pela frente scheint es nun nicht darum zu gehen, diese Radikalität weiter zu vertiefen. Viel eher werden die Fäden von Nascido sob o signo incivilizatório aufgenommen und die seitdem gewonnenen Erkenntnisse unmittelbar in einen konventionelleren Kontext transkribiert, wenn die Gitarren wieder Strom saugen und das Songwriting vielleicht so zugänglich wie nie zuvor abholt, während die Kompositionen immer länger werden.

O castigo vem à cavalo geht dafür dennoch erst einen Schritt weiter in den mystisch aus der Zeit gefallenen Folk, man darf an Mogwai und Oranssi Pazuzu mit traurig beschwingterer Rhythmik, flötierenden (?) Texturen und zart verträumte Gesang denken. Rasch kippt dieser Einstieg jedoch in den Black Metal, holt die verzerrten Gitarren mit dringlichem Hunger zurück, schraubt sich mit Blastbeats, getriebenen Riffs und fauchenden Keifen empor. Zwar kehrt Lemo zu einem eilig polternden Part der Folklore zurück, über den die schnittigen Gitarren mit dem Metal-Singsang hinweg galoppieren, doch wächst die Nummer immer epischer und sehnsüchtiger, bevor der Song die kontemplative Trance einer still angetriebenen Tempelmusik findet, ein Ornament aus World-Musik-Ambient.
Der beinahe thrashige Appendix wirkt a vielleicht etwas zu sehr als redundanter Twist, macht im Kontext zumindest als Einleitung zu Toda mágoa do mundo Sinn, führt aber auch das dezent enervierende Manko des Albums vor: Strukturell ist die Platte einfach ein zu genormt verlaufender Wellengang, die strukturelle Ordnung der Platte ist wenig überraschend, wenn auf einen schwarzmetallischen Part immer eine Atempause folgt, gerade der gelöst tropical durch das Amazonasgebiet bewegende Rhythmus an den unverstärkten Parts genormt wirkt. Dass Lemos dennoch jede Segment gebührend erforscht, jeden Abschnitt homogen aneinanderfügt und die Spannungsbögen innerhalb dieser Formen raffiniert konzipiert, spricht freilich für die Ausnahmeerscheinung aus Brasilien.

Was für grandiose Bassläufe Kaatyra etwa alleine schreibt wird spätestens in Toda mágoa do mundo offenkundig –  was bei derart schwindelerregen Gitarren auch erst einmal derart explizit zu Buche schlagen muss: Das ist ein Tremolo-Rausch aus verzweifeln Schönheit und manischer Grandezza, der in der entschleunigten folgenden Meditation die Lavalampen aus dem Weg räumt, als hätten Bohren einen lateinamerikanischen Tanzkurs gebucht, der die beiden Pole der Nummer fusioniert und ausgelassen zelebriert.
Miséria da sabedoria nimmt eine fingepickende Eleganz des Dialogs der Akustiksaiten als Ausgangspunkt für einen puren Husarenritt über 26 Minuten. Es ist faszinierend und beeindruckend, mit welcher Geschwindigkeit, welchem Verlangen und welcher Intensität Lemos die Melodien mal über ein kaum zu bremsendes Schlagzeug schleudert, die Dynamiken jedoch auch bei gedrosselten Tempo immer wieder variiert und Toda história pela frente hinten raus immer mehr in ein dystopisches Synthie-Neonlicht taucht. Das ist einfach verdammt spektakulär und erfüllend, spannend und ambitioniert, eventuell auch ein Ausblick auf die nächsten Taten dieses nimmermüden Wirbelsturms: Mit Album Nummer 5 muß schließlich jederzeit gerechnet werden.

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