Tides of Man – Every Nothing

von am 6. September 2018 in Album

Tides of Man – Every Nothing

Der Paradigmenwechsel Young and Courageous hat 2014 bewiesen, dass es durchaus eine Zukunft für Tides of Man im Postrock geben kann. Every Nothing geht nun den Schritt weiter und reklamiert, dass diese keinesfalls in der zweiten Reihe des Genres stattfinden wird müssen.

Und das, obwohl auch dem zweiten Teil des gelungenen Reboots die originäre Handschrift oder unverkennbar identifizierende Alleinstellungsmerkmale fehlen, die keinen Zweifel daran lassen, wer die Urheber dieser Klanglandschaften im konventionellen Instrumentarium – meist das Zusammenspiel aus zwei Gitarren, Schlagzeug und Bass – sind. Selbst wenn Produzent- und Mehr-oder-Minder-Keyboardmitglied Spencer Bradham etwa in Death is No Dread Enemy eine pianodominierte Einladung mit entschleunigten Beats aus der Konserve konstruiert, die Nummer später archetypisch anschwellend fließt und sich zur Mitte hin vollkommen ausbremst, um in einem ätherischen Ambientmeer zu baden, ist das im Grunde trotzdem „nur“ eine rundum schöne Genre-Nummer, die routiniert den Windschatten von ikonischen Taktgebern wie Explosions in the Sky verwaltet.
Auch Outside Ourselves zeigt, wie unmittelbar man kann sich in den versiert gestalteten Welten der Band verlieren kann, wie fachmännisch der einnehmende Postrock von Tides of Man assoziativ umspült – doch sobald die Nummer die Andeutung mit orchestraler Größe umgehen zu können liefert, wird das Szenario eben leider doch zu generisch aufgelöst – ohne damit per se etwas falsch zu machen.

Allerdings wirkt es durch derartig praktizierte Sicherheitsgedanken immer wieder so, als würden sich Tides of Man selbstlimitierend in die bequeme Stil-Kategorie ihres zweiten Lebens schmiegen wollen, ohne Szeneanhänger zu verschrecken, ohne Risiken einzugehen – nur nichts machen, was zuvor nicht bereits anderswo etabliert wurde. Wo schon Young and Corageous das neue Kind in der Klasse war, das trotz seines klar erkennbaren Talentes um keinen Preis auffallen wollte, wiegt dies auf Every Nothing nunmehr noch schwerer, da Album Nummer Vier eben trotz der Auastauschbarkeit im Outfit charaktertechnisch auch nahezu alles um das Quäntchen besser macht, als der direkte Vorgänger – insofern einfach noch mehr möglich wäre.
Den Mangel an individueller Originalität wiegen schließlich alleine schon einige der schönsten Szenen des Instrumental-Rock-Jahres auf. New Futures flimmert beispielsweise sehnsuchtsvoll und blinkt melancholisch zum Cinemascope, während Far Off als sphärische Pianoballade die Atmosphäre variabel vertieft und Old 88 beginnt wie eine Folk/Americana Nummer, die Justin Vernon während der Aufnahmen seines ersten Bon Iver-Albums gehört haben könnte, auch wenn sich Tides of Man immer mehr in ihre progressiven Wurzeln auszubreiten beginnen, die auch in der schlagzeugdominanten, dramatischen, erstaunlich heavy daherkommenden Dringlichkeit von Everything Is Fine, Everyone Is Happy zu spüren ist.

Der Rest ist zumindest zutiefst befriedigende, ausfallfrei fesselnde Handwerkskunst mit imaginativer Bildhaftigkeit, die gerade am Stück konsumiert trotz der Spielzeit von 58 Minuten enorm kurzweilig in ihren Bann zieht und die Längen von Young and Corageous nahezu ausmerzt. Vor allem aber sind es letztendlich zwei elementare Punkte, die die Band aus Tampa über die Masse hebt, in der sie sich zu bereitwillig bewegen.
Zum ersten mögen Tides of Man zwar als Epigonen mit ihren verträumten Gitarren und wuchtige Rhythmen nach allen regeln der Kunst spielen, verweigern in den Strukturen jedoch billige Tropen und Klischees, indem sie sich schlichtweg als starke Songwriter beweisen, die Hooks und Melodien über weite Strecken auch ohne reine Laut/Leise oder Tremolo-Eindemensionalitäten strahlen lässt. Zum zweiten kann sich die Band auf einen absolut grandiosen Sound verlassen, der fantastisch produziert und gemixt aufgeht. Every Nothing klingt warm, einladend und neugierig, zieht die Zügel gegebenenfalls jedoch auch energisch spannend an, lässt alle Elemente gekonnt an ihrem Platz werken. Eine gefestigte Zuversicht und Selbstsicherheit, nichts überstürzen zu müssen, ist es, die die Kompositionen in diesem Raum versiert lenkt und all die Texturen mit einem tollen Gefühl für Balance und Dynamik meistert.
Wenn Young and Corageous insofern also die Platte war, um sich neu zu finden, ist Every Nothing jene, die das nötige Selbstbewusstsein kultiviert, um Ambitionen zu wecken, die Größen des Genres demnächst auf Augenhöhe herausfordern zu können.

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