Nine Inch Nails – Ghosts VI: Locusts

von am 2. April 2020 in Album

Nine Inch Nails – Ghosts VI: Locusts

Dystopische Klangwelten für dystopische Zeiten: Nine Inch Nails liefern mit den ansatzlos veröffentlichten Instrumental-Doppel aus Ghosts V: Together und Ghosts VI: Locusts den Soundtrack für ein isoliertes Leben während der Corona-Pandemie.

Anybody out there? New Nine Inch Nails out now. Ghosts V–VI. Hours and hours of music. Free. Some of it kind of happy, some not so much.“ Eine aus dem Nichts kommende Tatsachenverkündung, die selbst überraschen konnte, wenn man sich die konstant hohe Veröffentlichungsrate von Trent Reznor und Atticus Ross im (Filmmusik-) Allgemeinen, wie das zuletzt über das zwischen Kurz-und Langspieler zankende Triptychon Not the Actual Events, Add Violence, Bad Witch des Mutterschiffs Nine Inch Nails im Speziellen vor Augen führte. Oder auch nicht. Immerhin wurde die Motivation hinter der spontanen Veröffentlichung der beiden Alben ein wenig später noch präzisiert: „As the news seems to turn ever more grim by the hour, we’ve found ourselves vacillating wildly between feeling like there may be hope at times to utter despair—often changing minute to minute. Although each of us define ourselves as antisocial-types who prefer being on our own, this situation has really made us appreciate the power and need for CONNECTION.

Auch wenn Reznor mit „some kind of happy“ höchstens augenzwinkernd über Ghosts V: Together gesprochen haben kann, ist klar, dass mit „some not so much“ dann doch primär das Material Ghosts VI: Locusts gemeint ist. Immerhin ist der Kontrast zu dem simultan veröffentlichten Vorgänger eklatant: Die hier aufgefahrenen knapp 83 Minuten sind deutlich dunkler ausgelegt, nicht derart meditativ, dabei generell schwerer zu erfassen, ambitionierter und auch ebenso detaillierter wie dynamisch abwechslungsreicher konzipiert.
Wo Form und Inhalt divergieren, ist Part 6 des Ghosts-Zyklus immer noch ein Ambient-Werk, in der Gegenüberstellung allerdings trotzdem weniger umspülendes Mood Piece, als vielmals ein Kopfkino mit stärker ausgeprägten Narrativ und Spannungsbögen, weswegen die Platte auch zwingender auftritt – anstatt zu verharren lieber das Verlangen zeigt, weiter in das Kaninchenloch zu kriechen und eine Symbiose mit der Dunkelheit zu arrangieren. Wenn Reznor also eine „Connection“ sucht, dann ist eine solche in diesem Kontext als Verbindung zur kaputteren, abgründigeren und düstereren Seite der Nine Inch Nails zu interpretieren.

In dieser Verortung schließt Ghosts VI: Locusts jedoch erst einmal nicht nur einen Bogen zu seinen beiden Vorgängern, sondern im Grunde auch zum Soundtrack-Jahr 2019 von Reznor und Ross, indem Ansätze der drei Watchmen-Scores (vor allem das somnambule Einweben jazziger Bläser und uhrwerkartiger Motive) hier zu einem kompromissloseren und konsequenteren Ende gedacht werden.
Gerade der Einstieg in das Album gerät so zum mitunter besten, was seit vielen Jahren unter dem Nine Inch Nails-Banner erschienen ist. Der Opener The Cursed Clock übernimmt von Ghosts V: Together als geduldige Klaviernummer, führt sein repetitives Uhr-Motiv aber von Still kontinuierlich in die Abgründe von The Fragile – nicht nur ästhetisch. Around the Corner addiert zu den nebulös-verdächtigen Suspiria-Tastenanschlägen eine sinistre Stimmung aus verrauchten Noir-Kellerbars mit Trompeten- und Saxofon-Delirien, umgarnt eine trostlos siechende Schönheit, die in aller Ruhe einem subversiven Wahnsinn verfällt.
The Worriment Waltz träumt märchenhaft von Blasinstrumenten, die in einen einsamen Nachthimmel transzendieren. Im Hintergrund schimmert der Suspence, löst die Strukturen immer weiter auf, wirkt wie eine einsame Verabschiedung im vergessenen Bestattung-Szenario. Run Like Hell ist wie alle Tracks der Veröffentlichung(en) ideal betitelt, wenn Reznor und Ross eine filigrane Perkussion in den explosiven Trip Hop aus der Free-Jazz-Perspektive treiben, das Schlagzeug und die Trompete gegeneinander aufwiegeln und letztendlich doch eine trügerische Geborgenheit finden.

Dass Ghosts IV: Locusts dieses Niveau in weiterer Folge nicht weiter steigern (oder zumindest restlos halten) kann, liegt auch daran, dass das amerikanisch-englische Duo den architektonischen Aufbau den Albumnamen erläutern lässt, die folgenden Nummern wie ein unberechenbarer Heuschreckenschwarm über spielzeittechnisch deutlich knapper bemessene Songentwürfe oder Intermezzi herfallen lässt.
When It Happens (Don’t Mind Me) gerät da zur nervösen Psychose ohne Hektik, Another Crashed Car ist das Hackbrett-Fragment einer geloopten Idee, die falsch verbunden ist. Temp Fix zeigt eine klaustrophobische Kammerspiel-Collage und Trust Fades ein umsichtiges Klavierstück, das in seinem optimistischen Ton auch auf Together gepasst hätte. Nicht nur in dieser Phase hätte dem Werk ein bisschen mehr Destillation durchaus gut getan, ein paar straffere Rahmenbedingungen das aktivere Momentum gefördert. A Really Bad Night löst diese Stellschrauben zwar wieder, lässt den Song mit Resignation aus dem Leim taumeln, erschöpft und abgekämpft, während die Arrangements in apokalyptisch verhaltener Anmut dräuen, bevor Your New Normal den Zustand der Welt auf den Punkt bringt und beinahe gelöst an Tempo aufnimmt – doch steht diese Entwicklung eher für einen nunmehr vielleicht weiterhin enorm homogenen, aber auch zerfahrenen Albumfluß.

Just Breathe reibt seine in Zeitlupe schleichende Angst und Leere am Verfolgungswahn der Arrangements auf, doch Right Behind You ist im Nacken sitzend keine Bedrohung, sondern eine deprimierte Traurigkeit, die selbst Trost bräuchte. TURN THIS OFF PLEASE sucht fokussiert den Weg nach vorne, schnauft am Radiator und bewegt sich feingliedrig, löst gar Ahnungen von rhythmischer Clubmusik in sedierter Trance aus, ist ein mutierender Wechselbalg zwischen David Lynch, Throbbing Gristle und Nurse With Wound.
So Tired lässt erahnen, dass sich das Stück zu einer melancholischen Grandezza erheben könnte, doch ist der Titel Programm, weswegen der Weg durch eine finsterere Nacht in Almost Dawn auch nur beinahe vorbei ist. Der Closer hat eine sehnsüchtig die Augen schließende, ätherisch schwebende Space-Leichtigkeit, die den Schulterschluss zu Together findet, auch wenn der kurzfristig vorbeischauende, staubig pumpende Beat willkürlich bleibt.
Vielleicht einfach bleiben muße. „We decided to burn the midnight oil and complete these new Ghosts records as a means of staying somewhat sane“ erklärt Reznor und tatsächlich wirkt Ghosts VI: Locusts phasenweise überhasteter und zerissener als sein Konterpart, indem die an sich überraschende Kohärenz der beiden 2020er-Ghost-Teile hier doch immer wieder zur impulsiven Spontanität der ersten vier Parts zurückfindet. Diese Ambivalenz macht auch die schwarze Seite der zwei gratis downloadbaren Pandemie-Medaillenseiten nicht perfekt – aber eigentlich nur noch interessanter und unberechenbarer.

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