Nine Inch Nails – Bad Witch
Den Abschluss der über Not the Actual Events sowie Add Violence laufenden EP-Trilogie verkleiden Nine Inch Nails kurzerhand als reguläres Studioalbum: Bad Witch überrascht als Nachfolger zu Hesitation Marks jedoch nicht nur aufgrund seiner arg überschaubaren Laufzeit.
Das offiziell neunte Studioalbum der Nine Inch Nails ist streng genommen die fünfte EP der Band. Warum dem allerdings nicht so ist, erklärt Reznor mit der Ordnung bei Streamingdiensten und schiebt vorsichtshalber noch ein „suck my entire cock“ hintennach.
Jedenfalls setzt Bad Witch den aktuellen Trend, Kurzformate als Langspieler zu vermarkten (wie etwa Kanyes Wyoming Sessions-Reihe – DAYTONA, YE, KIDS SEE GHOSTS, NASIR, K.T.S.E.) nahtlos fort, tut sich bei dieser rein marktwirtschaftlich bedingten nominellen Positionierung aber letztendlich keinen Gefallen. Bad Witch fühlt sich schlichtweg nicht wie ein Album an.
Gerade für Nine Inch Nails-Verhältnisse erreicht es auch aufgrund seiner Spielzeit nie die Gravitation und erdrückende Masse, die man selbst von den schwächsten Vertretern der Discografie gewohnt ist. Wo die sechs Songs von Bad Witch für sich stehend (und trotz eines unrund bleibenden Rahmens bis zu einem gewissen Grad auch im Verbund) durchaus kohärent und sich homogen wandelnd funktionieren, vor allem gerade im Kontext der angedachten EP-Trilogie absolut schlüssig aufgegangen wären, wirkt der Spannungsbogen des Gesamtflusses als deklariertes Album jedoch skizzenhaft überhastet und nicht gänzlich befriedigend zu Ende gedacht, da die Spannweite aus dem typischen, selbstreferentiellen Signature-Sound und sich auftuenden eklektischen neuen Perspektiven nur unbefriedigend angerissen, aber nicht unbedingt befriedigend abgeschöpft werden.
Es ist, als würden Bad Witch minimale Fragmente und einzelne Episoden an den Nahtstellen eines Narrativs fehlen, deren Abwesenheit verhindern, dass die Platte im Spektrum ihres kompakten Beginns über bis hin zum experimenteller schwelgenden Finale verdient ausbalanciert zu ihrer vollen Größe heranwachsen kann. In der das Material in der zu kompakten Erscheinungsform des anvisierten EP-Abschlusses belassend sind Reznor und Ross im Verlangen nach genug Aufmerksamkeit für ihr Schaffen einen unausgegorenen Kompromiss eingegangen und riskieren ausgerechnet dadurch, Bad Witch unter Wert zu verkaufen. Weil weniger hier nicht mehr bedeuten soll, indem die Band den Fokus auf Qualität zu schärfen gedenkt, sondern schlichtweg die Breitenwirksamkeit der Wahrnehmung des Rezepienten zu verändern versucht.
Letztendlich ist es andererseits eventuell sich nur schlüssig, dass die Album-Maskerade durch die kontroverse Typisierung eine Diskussion über althergebrachte Formate im digitalen Zeitalter loszutreten versucht, da sich die Musik dahinter ebenfalls aus angestammten Komfortzonen befreit: Bad Witch ist wie von Reznor prolongiert tatsächlich mehr „risky“ und „exciting„, als es Nine Inch Nails schon lange waren.
Shit Mirror eröffnet als verzerrt pumpender Track mit Handclaps für die von Noise terrorisierte Industrial-Tanzfläche, shaked enorm konzentriert verdichtet und hat in den aufmachenden Soundschichten des Refrains dennoch eine sehnsüchtige Weite. Relativ konventionell und zugänglich hauen Reznor und Ross hier gleich zu Beginn einen straight in die Distortion rockenden Hit hinaus, der gerade hinten raus auf seine hypnotische Rhythmik baut und immer weiter ins Stadion vordringt.
Am besten ist dennoch der ansatzlose Übergang zum folgenden Ahead of Ourselves, das wie ein Drum’n’Bass-fixierter Remix übernimmt, abgedämpft und psychedelisch kodiert. Immer wieder zeigen kurze Eruptionen Zähne, doch die rauschhaft beschleunigende Nummer bleibt mit ihrem nach vorne treibendem Verve lauernd, artikuliert seinen energischen Zug unter einem weißen Rauschen verbergend. Der kurze Break zu Play the Goddamned Part ist suboptimal, bremst den allgemein tollen Spielfluss aber nicht aus: Das Instrumental pulsiert als eine fiebrige Version der Soundtrackarbeiten von Ross und Reznor, hangelt sich sinister und abgründig vage Richtung Quake. Die Produktion ist nebulös und bedrohlich, ein Saxofon schwebt mit psychotisch beschwörender Geduld in den ungemütlich pochenden Track – das dringlich gespielte Instrument wird für die restliche Distanz von Bad Witch ästhetisch stilbildend bleiben.
Ab hier ist auch spätestens überdeutlich, dass „The“ Nine Inch Nails eine unterschwellig brodelnde Finsternis in ihrer Präsenz aus dem Besuch in Twin Peaks adaptierten. Badalamenti und Zhang Hungtai haben Spuren hinterlassen, mehr noch war Blackstar (2016) prägend: Der Rhythmus hibbelt lebendig mit freejazzigen Nervosität, wie in experimenteller Trance, Nebelschwaden überdecken eine unterkühlte Aura. In God Break Down the Door kling Reznor Reznor sogar stimmlich wie eine avantgardistisch-elegische Reinkarnation von Bowie selbst, der sich in einem tanzbaren Acid-Clash vor Scott Walker in Zeitlupe bewegt, während rund um ihn alles mit manischer Getriebenheit agiert.
I’m Not From this World atmet danach lange Zeit als ambiente Meditation, ungemütlich brodelnd, nicht greifbar, ein Rauschen aus Schaltkreisen. Das Instrumental spannt die Atmosphäre imaginativ und tiefenwirksam einnehmend weiter, doch gerade auf die elaborierte Länge von knapp sieben Minuten wirkt I’m Not From this World im knapp bemessenen Gesamtkontext zu wenig essentiell, zu mäandernd: Was auf einen längeren Albun-Raum mit zumindest ein, zwei zusätzlichen Songs als atmosphärische Klangfläche und stimmungsvolles Bindemittel hervorragend aufgegangen wäre, erscheint über die 31 Minuten von Bad Witch phasenweise wie zeitschindende Ziellosigkeit. Die etwas verschobene Balance mit der Identität der Platte wird hier auch musikalisch greifbar.
Dennoch ist gerade die stilistische Entwicklung innerhalb des Werkes durchaus einnehmend. Over and Out wummert deswegen auch wie selbstverständlich in eine von den 80ern gefärbte, wummernd-flippernder Elekro-Fläche, flaniert verträumt und dennoch bedrängend, als hätte sich Ghosts I-IV mit einem ambienten Schleier zugedeckt. Später singt Reznor mit vibrierend croonender Stimme, weinerlich und zärtlich, fällt mit dem restlichen Song irgendwann in einen repetitiven Loop, bevor die angezogen Spannung sich nicht als Kakophonie, sondern als sphärisch versöhnliches Klangmeer öffnet. Der starke Abschluss einer faszinierenden Reise, doch die Epiphanie bleibt aus.
Bei all seiner Klasse ist die Akribie von Bad Witch schließlich auch eine frustrierende Erfahrung. Gerade, wenn man sich vor Augen führt, was hier mit mehr Expeditionszeit noch möglich gewesen wäre; dass selbst ein Verbund des auf Sicherheit bedachten Materials von Not the Actual Events und Add Violence als Basis mit den Auswüchsen von Bad Witch durchaus die Qualität gehabt hätte, ein bärenstarkes Nine Inch Nails-Album in konventioneller Länge zu formen, wohl sogar das beste seit With Teeth.
Woran gerade die Songs von Bad Witch elementaren Anteil haben hätten können, indem sie endlich wieder eine Band zeigen, die bisweilen ambitioniert und mutig über den Tellerrand blickt, vor unruhiger Energie knistert und eine revitalisierende Kraft produziert. Auch, wenn es der an sich großartigen Musik gegenüber nicht fair sein mag, ihr anzukreiden, dass sie das aufgebürdete Format nicht zu füllen vermag: Würde man Bad Witch an den selben Wertmaßstäben wie die beiden vorangegangenen EPs bemessen, dürfte man sich gerne noch einen Punkt in der Endbewertung hinzudenken.
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