Die Alben des Jahres 2023: 50 – 41

von am 31. Dezember 2023 in Featured, Jahrescharts 2023

Die Alben des Jahres 2023: 50 – 41

Den Platz im Herzen wird so schnell niemand Perfect Light streitig machen. Dennoch ist es nun an der Zeit, den Thronfolger unseres Album des Jahres 2022 zu kühren. Spoiler: es ist gewissermaßen das Yang zum 40 Watt Sun-Yin geworden.

Noch ein Spoiler: die Review zum diesjährigen Spitzenreiter ist keine der meistgelesenen in der Geschichte von Heavy Pop. Und betrachtet man die Statistiken der vergangenen 12 Monate, sind die Top Ten der Plattenbesprechungen mit den höchsten Clickzahlen hier zu weiten Teilen in der Hand von Ryan Adams.
Um den zusätzlichen Parameter eines notwendigen Erscheinungsdatums innerhalb des Kalenderjahres von 2023 ergänzt, sieht die Sache allerdings schon ein klein wenig differenzierter aus: dann lacht nämlich Van Morrison mit Moving on Skiffle von der Pole Position, dicht gefolgt von Morning Glory und Myrkurs erster Soundtrackarbeit Ragnarok.

| HM | EPs | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01  | Playlisten |

Arnaut Pavle - Transylvanian Glare50. Arnaut Pavle – Transylvanian Glare

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Nur zwei Jahre, nachdem das so lange auf sich warten gelassen habende selbstbetitelte Debüt den über sägenden Crust im D-Beat galoppierenden Black’n’Roll von Arnauld Pavle von der Leine gelassen wurde, tritt das finnische Mysterium mit räudigem Sound und satanischer Vampir-Energie wieder auf sein Lo-Fi-Gaspedal – tatsächlich wurde Transylvanian Glare sogar bereits 2021 in Helsinki aufgenommen, köchelte jedoch geduldig vor sich her, bis die beiden für Klasse bürgenden Schmieden Mystískaos und Amor Fati Productions sich der Sache annehmen.
Begleitet von ähnlich veranlagten Kollegen wie Zorn lässt sich das Zweitwerk von Arnauld Pavle im Widerspruch dazu kaum lange bitten, schraubt sich mit Oldschool-Feeling und polarisierend programmierten (?) Drums in Windeseile zu seinem schwerelos solierendem Finale in On a Shrine of Rats und will dabei gar nicht erst die kaum vielschichtige Einseitigkeit der Gangart kaschieren. Gut so!

Hellish Form - Deathless49. Hellish Form – Deathless

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Auch wenn diesbezüglich kein kausaler Zusammenhang besteht, ist es doch ein interessanter Zufall: Ausgerechnet im Jahr der Wiederkehr von Khanate finden Hellish Form eine gehörige Portion Hoffnung in ihrem so sehr durch Alan Dubin und Co. geprägten, von retrofuturistischen Synths eingekleideten Funeral Doom und Atmospheric Sludge in all seiner Abgründigkeit. Mehr als eine Interaktion auf die externen Einflüsse des Duos ist Deathless aber eine Reaktion auf den 2021er-Vorgänger Remains.
Richtiger gar eine Verbesserung der dort etablierten Umgangsformen: das Ambiente zieht dichter in seinen Bann, die Riffs erheben hymnischer, die Katharsis ist plättender. So ganzheitlich Hellish Form ihren Sound damit in ein Panorama ausbreiten, das vom Artwork in seiner Mystik (aber ohne dessen Kitsch) passgenau eingefangen wird, ist diese konzentrierte Leistungs-Optimierung auch deswegen beeindruckend, weil sowohl Willow Ryan (mit Body Voids Atrocity Machine), als auch Jacob Lee (mit Elder Devils Everything Worth Loving), mit ihren jeweiligen Stamm-Bands schon so kräftezehrend abgeliefert haben.

Tujiko Noriko - Cr_é_puscule I & II48. Tujiko Noriko – Cr​é​puscule I & II

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Dass Andre 3000 in vielen Jahresrückblicken auftaucht, ist freilich nachvollziehbar. Denn dass genau diese Platte gegebenenfalls ideal als Alibi-Erwähnung herhalten darf, um einen Ambient-Vertreter in den Charts vorweisen zu können, nur recht und billig. Doch ist New Blue Sun, bei aller Liebe, letztendlich doch primär ein künstlerisches Statement, und keineswegs per se ein wirklich überragendes Album.
Ein substantiellerer Paradigmenwechsel  ist derweil Tujiko Noriko gelungen, die für Crépuscule I & II in einen collagenartigen Trancezustand aus elektroakustischer Sphären-Klangmalerei umschwenkt, ihr avantgardistisches Pop-Verständnis nur noch vage erahnbar bleiben lässt, aber dabei Musik geschaffen hat, die nicht nebenbei auf esoterische New Age-Weise berieseln will (dies aber kann!), sondern in ihrer Abstraktion eine imaginative Unbedingtheit forciert, die fast schon eine Art (bitte bilingual zu verstehen) No-Bullshit-Attitüde im direkten Wirken dieser strukturfreien und formoffenen Delirien an den Tag(Traum) legt. So geht Konsens.

Spurv - Brefj_æ_re47. Spurv – Brefj​æ​re

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Für den seit 2021 ständig aufs Neue verwöhnten Postrock-Fan war der aktuelle Jahrgang eher mit Schonkost gespeist.
Sicher, auf Grails war wie immer Verlass und Explosions in the Sky haben eine solide Rückkehr gezeigt. Balmorhea, Din of Celestian Birds, Shy, Low oder Suspension Bridge Workshop und Ranges ließen neben einigen anderen das Genre auch keineswegs darben. Aber ein wirkliches Prunkstück ist der Szene nicht gelungen…
…bis dem norwegischen Kollektiv Spurv mit seinem Drittwerk Brefjære dann über eine metallische Kante, umsichtig eingestreute Vocals und klassischer Melodien samt einer mystischen Tendenz zum Orchestralen und Epochalen doch noch eines gelungen ist. Und wer dahinter nur eine Attraktivität mangels richtiger Alternativen vermutet, hat schlichtweg die Grandezza von Til en ny vår nicht gehört.

El Michels Affair & Black Thought - Glorious Game46. El Michels Affair & Black Thought – Glorious Game

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Eine einfache Rechnung: Black Thought geht einfach immer und El Michels Affair haben noch nie enttäuscht. Dass Glorious Game insofern eine sichere Sache sein würde, war also eigentlich klar, als die Kooperation Anfang des Jahres angekündigt wurde.
Tatsächlich sind die 30 Minuten der Platte aber mehr als das. Mit einem Tariq Luqmaan Trotter, der all seine Rap-Klasse auf eine erstaunlich introspektiv gehaltene Performance legt (und nicht umsonst „This one of my most personal projects to date“ zu Protokoll gibt) und einem Leon Michels, der für Glorious Game erst eigene Songs schrieb, diese dann aber nur als Samples für die Hip Hop-Beats der Platte verwendete.
Organisch eingespielt ist die Zusammenarbeit eine so smoothe, gefühlvolle Symbiose aus Soul, Funk und Boom-Bap, in der beide Parteien auf Augenhöhe interagieren, sich in ihren Skills niemals überschatten und das Rampenlicht umso heller strahlt, weil es geteilt wird.

Gunship - Unicorn45. Gunship – Unicorn

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Gunship und Tim Cappello bleiben in der die 80er wiederbelebenden Synthwave-Welt nur vom Verbund aus Kristoffer Rygg und Carpenter Brut auf Augenhöhe erreicht werdende Paarung der Superlative. Denn immer, wenn die Londoner Retrofuturisten mit der körperbewussten Legende zusammentreffen, entstehen brillante Pop-Momente: Capello weiß einfach, wie er einen tollen Gunship-Song ansaxen muss, um daraus einen richtig grandiosen zu machen.
Das war vor fünf Jahren auf dem Titelsong von Dark All Day so, das ist diesmal auf Monster in Paradise (auf dem sich weitaus unidentifizierbarer übrigens auch Dave Lombardo herumtreibt), Empress of the Damned, Tech Noir II (auf dem sich weitaus unidentifizierbarer übrigens auch John Carpenter herumtreibt) und Nuclear Date Night nicht anders.
Dass Unicorn mit seiner wirklich spektakulären Gästeliste insofern einfach exakt dort weitermacht, wo die Vorgänger-Platte aufhörte (und dabei streng genommen weniger hohe Höhen erklimmt) geht angesichts eines grundlegend imposanteren Grundniveaus absolut klar.

Saint Karloff - Paleolithic War Crimes44. Saint Karloff – Paleolithic War Crimes

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Vetle Raatten wurde mittlerweile als neuer Bassist und offizieller Nachfolger des 2021 verstorbenen Ole Sletner von Saint Karloff bestätigt, nachdem Ersatzmann Nico Munkvold als Interimslösung am Tieftöner die Norweger über eine schwierige Übergangsphase ihrer Karriere getragen hat: Das Hauptaugenmerk konnte mutmaßlich kaum darauf liegen, die hauseigene Meisterleistung – Interstellar Voodoo von 2019 – zu toppen, sondern darauf, als Band zu überleben.
Dass Paleolithic War Crimes insofern keine Kür, sondern eine absolut solide Verwalter-Platte geworden ist, ist aber ganz unabhängig von den Begleitumständen kein Dilemma, weil eben wenige andere da draußen den Vintage Stoner Doom so gekonnt auf den Autopilot im Windschatten von Kyuss, The Sword und Black Sabbath schalten können, wie Saint Karloff es auf ihrem Drittwerk mit einer Trittsicherheit tun, die befriedigt mit der Zunge schnalzen lässt.

Blackbraid - Blackbraid II43. BlackBraid – BlackBraid II

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Auf der weiten Black Metal-Prärie zwischen etablierten Größen wie Wayfarer und weitaus mehr Aufmerksamkeit verdienenden Geheimtipps a la Maȟpíya Lúta hat die (live personell verstärkt auftretende) indigene Ein-Mann-Band BlackBraid mit dem (alles Potential, das das Debüt aus dem vergangenen Jahr ankündigte, so mühelos einlösenden) Zweitwerk ihren endgültigen Durchbruch geschafft.
Oder eher: BlackBraid II hält nun, was der Hype um das Projekt seit jeher verspricht. Mit der selben Erfolgsformel, nur idealer umgesetzt. Die Gitarren sind hymnisch, das Gekeife fies, die Rhythmussektion mit aggressiver Dynamik bestechend. Und das Songwriting hat eine unmittelbare Fähigkeit auf universelle Art zu begeistern.
All diese Aspekte überschatten dann auch – gerade mit ein wenig Abstand – den, euphemistisch betrachtet, wenig glücklich verlaufenen Drama-Besuch der Amerikaner am Midgardsblod Festival in Norwegen.

Fawn Limbs & Nadja - Vestigial Spectra42. Fawn Limbs & Nadja – Vestigial Spectra

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Es wäre in mehrerlei Hinsicht falsch, Fawn Limbs und Nadja dazu zu beglückwünschen, dass dem Gespann mit Vestigial Spectra jenes Album gelungen ist, an dem Full of Hell und Primitive Man mit Suffocating Hallucination gescheitert sind.
Auch deswegen, weil die Kooperations-Platte des Avantgarde Mathgrind Duos und der Drone-Doom-Institution seine Stärke nicht aus der Schwäche anderer bezieht, sondern alleine aus der zwischen den eigenen Urhebern erzeugten Spannung, der fusionierenden Aggression und Reibung provozierenden Symbiose.
Vestigial Spectra findet eine Harmonielehre in der Provokation, betrachtet rasendes Geballer und psychotisches Gekeife ebenso selbstverständlich separat von ambienten Soundscapes, wie es Hybriden daraus entwickelt, und sowohl Nadja als auch Fawn Limbs im Dienst der Sache als ziemlich beste Feinde transzendieren.

Dispirited Spirits - The Redshift Blues41. Dispirited Spirits – The Redshift Blues

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Ein klein wenig bleibt zwar zu jedem Zeitpunkt die Sorge, dass Indigo Dias mit seinem androgynen Gesang es in den selben pathetischen Cringe-Zonen übertreiben könnte, in denen sich Sleep Token längst tummeln. Doch hält der junge Portugiese im Gegensatz zu den Mainstream-Metallern letztendlich stets die Waage und balanciert Dispirited Spirits im kosmischen Koordinatensystem aus Art Rock, Midwest Emo, Space Rock und Jazz-Psychedelik versiert aus.
Dass entlang der progressiven Strukturen die erzeugte Stimmung direkter greift, als das Songwriting von The Redshift Blues an sich, bedeutet nicht, dass es keine griffigen Hooks gäbe – dagegen sprechen alleine Methanol Fire oder Saturnine Saturn Dreams. Doch ist dieses unmodern aus der Welt gefallene Zweitwerk als eigenwilliges Amalgam eben vor allem ein Album zum träumen. Und eines, das dabei alle Sorgen relativ erscheinen lässt.

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