Die Alben des Jahres 2023: 20 – 11

von am 31. Dezember 2023 in Jahrescharts 2023

Die Alben des Jahres 2023: 20 – 11

| HM | EPs | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01  | Playlisten |

Home Front – Games of Powers20. Home Front – Games of Powers

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Graeme MacKinnon (vocals, guitar, bass) und Clint Frazier (synthesizer, drums, programming) spielen (Post-)Punk mit markantem Coldwave-Einfluss, der nach dem (auf Platte von The Chisel-Frontmann mitgegröhlten) Überhit Nation nicht nur in New Face of Death ziemlich deutlich vorführt, wie eine Oi!-Achse aus frühen The Cure und Ian MacKaye jenseits von Fugazi als aufgeräumte Ohrwurm-Schleuder mit einem Bein im Synthpop funktionieren könnte.
Mit Produzent und Fucked Up-Kumpel Jonah Falco haben die beiden so britisch klingenden Kanadier als Home Front ätherischer Hymnen (Overtime) neben melancholische Nachdenklichkeiten (Contact) gestellt, zitieren in ihrer 80er-Lieben Joy Division (End Transmission) ebenso selbstverständlich wie Suicide (Born Killer) und kommen damit nicht nur durch, sondern verbinden all das auch noch zu einem schlüssigen schlüssigen Album, das sich in seiner süchtig machenden Eingängigkeit einfach nicht abnutzen will.

Lana Del Rey - Did You Know That There's a Tunnel Under Ocean Blvd19. Lana Del Rey – Did You Know That There’s a Tunnel Under Ocean Blvd

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Erst einmal hat Lana Del Rey es geschafft, eines ihrer Album auf dessen essentielle Masse beschränkt so zu editieren, dass kein unnötiger Meter übrig blieb – und das ist kommendes Jahr auch schon wieder eine glatte Dekade her.
Hinsichtlich eines Hangs des nicht zum Punkt findenden Mäanderns nimmt Did You Know That There’s a Tunnel Under Ocean Blvd nun aber durch zwei enervierende Interludes, die über acht Minuten Spielzeitg wirklich niemand braucht, einen frustrierenden neuen Spitzenplatz in der Diskografie der glamourösen Melancholikerin ein. Wobei Del Rey und ihre Produzenten-Riege auch für ein allgemeines Ungleichgewicht in der Ausrichtung sorgen: Der Soul in The Grants sowie dem Titelstück und der elektronische Downbeat-Twist in A&W tun den überragenden Songs gut – sind aber genauso nicht das, was das neunte Album von Del Rey mit dem Blick auf das große Ganze gebraucht hätte. Noch frustrierender sind nur das Bleachers-Feature in Margaret, das restlos deplatzierte Fishtails und das durch sein nervtötendes Angelina-Sample praktisch unhörbar gewordene Peppers.
Weil (das subjektiv idealerweise in eine EP sowie ein Nebenschauplätze homogen einfangendes Album separierte) Did You Know That There’s a Tunnel Under Ocean Blvd zwischen diesen Enden eigentlich kein Spektakel braucht, und mit einer relativen Unscheinbarkeit über in Schlichtheit zaubernde Kleinode wie Kintsugi, Fingertips, Paris, Texas und vor allem Grandfather Please Stand on the Shoulders of My Father While He’s Deep-Sea Fishing ein klein bisschen magisch zu werden droht.

18. Earl Sweatshirt & The Alchemist – Voir Dire

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Der 2022 so arbeitswütige Alchemist Alan Daniel Maman ließ es dieses Jahr neben dem zweiteiligen Flying High oder The Great Escape in Wirklichkeit relativ ruhig angehen, versteckt sich Voir Dire unter falschem Namen doch tatsächlich bereits seit Mitte 2021 im Netz – und damit rund zwei Jahre, bevor er und Earl Sweatshirt via einer digitalen Schnitzeljagd ernst machten und ihre Kooperation der Allgemeinheit präsentierten.
Für Speak the Truth lässt sich Maman seiner üblichen Produktionskultur folgend ganz auf den MO und die Vorlieben von Thebe Neruda Kgositsile ein, serviert einen fragmentarisch skizzierten Stil,  räumt diesen aber sauberer auf, als es Earl gewohnt ist. Der Beat-Backdrop wird dadurch griffiger und verstärkt die charakteristischen Vintage-Konturen: runder, geschmeidiger und gefühlvoller als beispielsweise in Heat Check oder Mancala hat man Earl insofern noch nicht gehört, dass er hervorragend mit Vince Staples harmonier weiß man dagegen längst. Was übrigens auch Punkte sind, die für die (von der regulären Version abweichenden) Streaming-Variante sprechen, Voir Dire aber in jedwedem Auftreten zu einem öfter und lieber gehörten Album als etwaige objektiv eventuell „bessere“ Hip Hop-Platten (wie zb. We Buy Diabetic Test Strips, Parthian Shots, He Left Nothing For The Swim Back oder Maps) machte.

Johnny Booth - Moments Elsewhere17. Johnny Booth – Moments Elsewhere

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Johnny Booth beginnen ihr dritten Langspieler vielleicht bei der schmetternden Synergie aus Frontierer-Math- und Every Time I Die-Metalcore, beenden Moments Elsewhere aber keineswegs bei diesem Ideal.
Dafür haben die Revival-Fetischisten aus Long Island viel zu viel Interesse an cheesy Pop-Melodien, Nu Metal-Ingredienzien und elektronischen Trends, an Emo-Kitsch und dem Alternative Rock-Mainstream.
Was freilich für eine ebenso breite Auftritts- wie Angriffsfläche führt: die 41 Minuten hier sind sicherlich eher polarisierendes Puristengift als eine konsenstaugliche Wollmilchsau-Parade. Doch auch wenn Moments Elsewhere einige penetrante Luft- oder nicht ganz geschmackssichere Tiefschläge abliefert, fällt die Quote der Wirkungstreffer gerade deswegen mit eindrücklicher Vehemenz zu Gunsten von Johnny Booth aus.

Jeromes Dream - The Gray In Between16. Jeromes Dream – The Gray Inbetween

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Als Jeromes Dream sich bereit machten, um ihr mit dem ambivalenten LP konkretisiertes Comeback auf die Bühne zu bringen, war allen Beteiligten klar, dass sich etwas an der grundlegenden Ausrichtung, nämlich den Vocals, ändern musste, wie der anstelle monotoner Rufe wieder aggressiv zu schreien begonnen habende Jeff Smith erklärt: „When we started rehearsing for touring I said, ‘You know what, I’m going to try this,’ and it was right, and everybody was like, ‘This is what we needed to do. It feels better.’ If you saw us in 2019 or you watched any YouTube videos, I’m moving back towards that place, and then we released Keep Those Bristles Clean and Closed with screaming vocals. I actually re-recorded those after we got back from tour because I was like, ‘Well, this is where we’re actually at.
Wie extrem wichtig dieser Schritt neben dem personellen Wechsel an der Gitarre von Nick Antonopoulos zu Loma Prieta-Wunderwuzzi Sean Leary (der Dank Last ein ziemliches Triumphjahr zu bejubeln hatte) für die Energie und Dringlichkeit der Screamo-Instanz Jeromes Dream ist, ist hingeben kaum in Worte zu fassen, wird aber durch 25 Minuten Furiosum destilliert: The Gray in Between ist der würdige Nachfolger des absoluten Klassikers Seeing Means More Than Safety.

Sufjan Stevens - Javelin15. Sufjan Stevens – Javelin

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Ginge es in dieser Liste darum, die eindrucksvollste Schere aus potthässlicher Optik und betörender Anmut des dahinter steckenden Inhalts zu küren, stünde Sufjan Stevens verdientermaßen auf dem obersten Treppchenplatz.
Dabei tun die umhüllende Cover-Collage und die Schönheit der aufgefahrenen 40 Minuten, in der Balance aus Zurückhaltung und Opulenz rund um meisterhafte Arrangements und zum Niederknien berührender Melodien im Grunde jeweils nur auf seine Weise weh. Denn selten war die vor glückseliger Harmonie jubilierende Musik von Stevens trauriger als auf Javelin – die textliche Ebene ist pure, an der Grenze zur Depression wandelnde Traurigkeit und eine oft hoffnungslose Sinnsuche, ein Sehnen nach Liebe.
Diese homogen eingefangene Diskrepanz gipfelt in der behaglich geöffneten Intimität Will Anybody Ever Love Me?, einem regelrecht erschütternd melancholischen Gänsehaut-Song für die Ewigkeit, der schon jetzt synonym für das sensible Pop-Verständnis von Sufjan Stevens steht.

Culk - Generation Maximum14. Culk – Generation Maximum

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Culk konnten immer schon vom Persönlichen auf das große Ganze schließen, doch verbreitert die Band für ihr drittes Studioalbum den Fokus (vielleicht auch als Reaktion auf Die Neue Heiterkeit von 2022?), richten den Blick nach außen und beobachten mehr als nur eine Generation.
Sie sehen eine Welt, die zwischen Hedonismus und Idealismus im Schraubstock einer allgemeinen Verzweiflung aufgerieben wird, finden für sich dort aber keine Ohnmacht, sondern eine Aufbruchstimmung, die ihrer weiterhin zutiefst melancholischen Perspektive bei aller Düsternis mehr versöhnliche Hoffnung beibringt, als Zerstreuen über Euch (2020) und das selbstbetitelte Debüt (2019) sie kannten.
Das Wiener Quartett dreht dabei nur an kleinen Stellschrauben ihres unverwechselbar patentierten Sounds, hat so aber sein komplettestes Werk bisher aufgenommen.

Thantifaxath - Hive Mind Narcosis13. Thantifaxath – Hive Mind Narcosis

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Mit Hive Mind Narcosis als dämonischen Soundtrack beginnen Goyas Hexen vor dem inneren Auge in einem manischen Fiebertraum-Delirium zu wüten, als wären sie dem Finale von Hereditary entsprungen.
Knapp neun Jahre hat es gedauert, bis sich Thantifaxath einen erfüllenden Nachfolger zu ihrem Debüt Sacred White Noise abbringen konnten. Es war ein Bändigen konträrer Dichotomie-Energien: „On one level there is a strong resistance to something, and on the other there is a total acceptance of that same thing“. Progressiv strukturiert, unberechenbar und doch exakt dort attackierend, wo die Komplexität direkt fesselt, führen Thantifaxath ihren dissonanten Black Metal so noch weiter in die Avantgarde und legen sich ergiebiger in die Atmosphäre, schimmern phasenweise gar psychedelisch. Das Gespür für Dynamik, Dichte und Intensität im markanten Songwriting wird dabei von einem kraftvollen Produktion und schier überirdischen Schlagzeugspiel und zusammengehalten, lässt hypnotisch quälend eine vertrackte Faszination immer weiter wachsen.
Ob Hive Mind Narcosis das Meisterwerk ist, zu dem der Hype es macht, soll die Zeit zeigen. Bis dahin kratzen die Kanadier beinahe an Stellen, die sonst nur Deathspell Omega erreichen.

Lankum - False Lankum12. Lankum – False Lankum

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Zu hören, wie Daragh Lynch an Erinnerungen an eine von (der stets außerhalb der eigenen Reichweite schwebend gebliebenen Ikone) Shane Gowan sozialisierte Jugend schwelgt, macht Vergangenheit und Kulturgeschichte greifbar.
Noch weiter in die Materie taucht Lynch jedoch mit seiner Band ein: Lankum stehen mit ihrem monumentalen Drittwerk False Lankum noch vor Kollegen wie Lisa O’Neill bis Grian Chatten an der Spitze einer vital wie selten auftretenden irischen Musikszene mit keltischem Traditionsbewusstsein.
An Konventionenen angepasst haben sich Lankum dafür seit ihren Anfängen als Lynched kaum. Viel eher hat die Band aus Dublin gewartet, bis sich die Welt der von ihr ausgehenden Gravitation zuneigt. Während erklärte Fans wie Kristin Hayter der komplett aus der Moderne entrückten Ästhetik des Quartetts so nacheifern, verinnerlichen Lankum selbst ihren angestammten MO, machen bei avantgardistischen Folk-Shantys keinen Unterschied zwischen Cover-Songs und eigenen Originalen, weil jedwedes Material ohnedies wie eine über unzählige Jahre gegerbte Sammlung klassischer Traditionals klingt, die im Unterbewusstsein eines kollektiven Gedächtnisses seit Urzeiten verankert zu sein scheinen: So speziell die Musik von False Lankum eigentlich sein mag, funktioniert sie auf vertraute Weise universell.

Gridlink - Coronet Juniper11. Gridlink – Coronet Juniper

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Jon Chang hat seine Karriere beendet. Schon wieder, diesmal aber wohl tatsächlich endgültig.
Ob er dafür den richtigen Zeitpunkt gewählt hat, darüber lässt sich freilich diskutieren. Weniger, weil der Longhena als veritables Meisterwerk 2014 schon der triumphalere Schwanengesang einer mit Discordance Axis das Grind-Game ikonisch prägend begonnen habenden Kartiere gewesen wäre. Und sicher nicht, weil das von vorne bis hinten so fabelhafte Schaulaufen Coronet Juniper ein unwürdiger Abschied wäre.
Sondern gerade im Gegenteil, weil eine in absoluter Topform agierende Band (rund um den in beeindruckend vitaler Hysterie fauchenden Chang und einem Takafumi Matsubara, der trotz seiner mittlerweile zahlreichen Spielwiesen förmlich vor Ideen zu explodieren scheint, während Brian Fajardo genug Speed für 2 Feuerwerke besitzt) hier immer wieder einen Schritt davon entfernt zu sein scheint, den Turbo Boost in den nächsten Karriereabschnitt (jenseits der NWOBHM-Highspeed-Powermetal-Anime-Irrsinns) zünden zu können – und es gerade jetzt eigentlich sogar einfach noch spannender als nach 2014 gewesen wäre, wo der Weg Gridlink hinführen könnte.
Sei es, wie es sei: Schon der angehängte Karaoke-Appendix von Coronet Juniper führt zwar vor Ohren, dass Jon Chang unersetzlich ist – dass sich der beste Schreihals des Genres seine Pension aber nach einer makellosen Karriere auch redlich verdient hat.

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