Daughters, Jeromes Dream [19.10.2019: Arena, Wien]

von am 20. Oktober 2019 in Featured, Reviews

Daughters, Jeromes Dream [19.10.2019: Arena, Wien]

Emotionaler Ausnahmezustand in der Arena: Die wiedervereinigte Screamo-Legende Jeromes Dream pulverisiert ihr Comebackalbum LP, bevor Daughters sich auf den Ausläufern des 2018er-Meisterwerks You Won’t Get What You Want selbst zerfleischen.

Die zweite Runde der Daughters durch Europa in diesem Jahr entpuppt sich quantitativ genau genommen als abgespeckte Version ihrer Tour im Frühjahr: Mit Daughters Spelled Wrong und Recorded Inside a Pyramid sind die zwei einzigen Vertreter von Hell Songs ersatzlos aus der ansonsten ident gebliebenen Setliste geflogen. Was auch insofern verwundert, weil gerade die vier älteren Songs vom selbstbetitelten Album von 2010 frenetisch aufgenommen werden und absolut explosiver Zündstoff für den Abend darstellen.
Schade also, dass kein ausführlicherer Blick in den Rückspiegel stattfindet. Auf den „Canada Songs!“-Apell aus dem (sich durchaus mit idiotischen Zwischenrufen und entsprechendem Verhalten auszeichnenden) Publikum gibt es sogar einen abschätzigen Mittelfinger von Marshall. Ein knappes „Thank You“ ist abseits davon übrigens das einzige Zugeständnis an etwaige Publikumsinteraktion – sobald Teile der Zuschauer etwa zu unpassenden Mitklatschpassagen anstimmen will, werkelt die Band gnadenlos darüber hinweg. Konventionelle Animationen sind nicht das Ding der nahezu vollends in adrettem schwarz erschienenen Daughters, die weiterhin ohne den arbeitstechnisch verhinderten Sam Walker, dafür aber mit Bassistin Monica Khot (im beigen Jumpsuit), Gitarrist Gary Potter Jr. sowie einem Keyboarder zu Quintett erweitert reisen.

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Dafür ist das Rahmenprogramm drumherum imposant gewachsen. Immerhin sind die Jugendhelden (und definitiv als Impulsgeber für gerade die frühen Songs von Daughters verantwortlich zeichnenden Genre-Initiatoren) von Jeromes Dream diesmal als herausragender Support dabei.
Auch wenn deren Reunionplatte nach langer Auszeit ja unlängst sehr ambivalent aufgenommen wurde, ist alleine die Anwesenheit der nominellen Vorband eigentlich Grund genug, um den Abend zum Pflichtprogramm zu erklären. Obwohl das nicht allen im doch relativ jungen Publikum restlos bewusst sein dürfte. Die zurückhaltende Reaktion der Besucher lässt aber eventuell auch nur mutmaßliche Rückschlüsse darüber zu, wie sehr die Institution mit ihrem Wirbelsturm-Material irritieren kann.

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Immerhin ist die Performance von Jeromes Dream nichts anderes als ein alle Erwartungen übertreffendes Feuerwerk, dass das Potential von LP mit der energieberstenden Impulsivität der frühen Screamo-Tiraden übersetzt und die neuen Songs endlich in jenem Berserker-Modus übersetzt, den man auf Tonträger produziert vermisst hat.
In permanentes rotes Licht getaucht bleibt das stakkatohafte Noieserock-Gerüst von LP so zwar noch vorhanden, wird weitaus dynamischer und hungriger durch den Reißwolf gejagt, mit immenser Brachialität und Geschwindigkeit potenziert. Die nunmehr vorhandenen Melodien stehen so in einem spannenderen, nuancierten Kontrast zu der aggressiven Ungeschliffenheit, die Instrumente (um eine zusätzliche Gitarre ergänzt) hyperventilieren hirnwütig und lehnen sich weiter bis in das Feedback, legen nicht nur bei Saitenproblemen ausladende Drone-Überbauten an.
Das aller-allerwichtigste aber: Während seine Kollegen schnappatmend zirkulieren baut sich Jeff Smith hühnenhaft mit dem Rücken zum Publikum auf – und schreit alte Klassiker ebenso erbarmungslos schrill wie neue Polarisierer ohne den eintönigen Effektverzerrer stimmbänderzerreißend  wie zu den Anfangszeiten der Band hinaus. Warum LP also (gesangstechnisch) sie klingt, wie es klingt (also: wie mit Handbremse und Megaphon eingespielt) ist nach knapp 30 Minuten nur umso unerklärtlicher – wenn es live doch immer noch geht – und auch frustrierend: Der Auftritt von Jeromes Dream macht eben auch deutlich, dass die Band mit ihrem Comeback einen weiteren potentiellen Genre-Klassiker absolut unnötig verschenkt hat.

Setlist: [Ohne Gewähr]
Keep Those Bristles Clean And Closed
Drone Before Parlor Violence
Pliers Consult With DRR
This Is For Baby Fat
True Thinkers Will Stop Time To Think
In Taking Twelve
With Ash To Drink
Cataracts So Far
It’s Right Where You Said It Would Be
It’s More Like a Message to You
A Present for Those Who Are Present
Half-In a Bantam Canopy

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Wo die älteren Songs mit ihrer zusätzlichen Dringlichkeit doch markant aus dem eruptiven Set von Jeromes Dream herausragen (und die Musiker sogar zu kurzen Verschnaufpausen zwingen), wachsen die unbedingten Highlights aus dem praktisch makellos gestaffelten Programm der Daughters schwerer identifizierbar heraus: Jeder Moment des Auftritts wirkt essentiell, in den besten Momenten aber sogar wie ein Destillat der Dinge, die man schon an den Studioalben der Band so liebt.
Die rhythmische Wucht der Live-Band Daughters ist schließlich von hypnotischem Druck, die Dichte des Sounds hat ein immenses Gewicht, die Dynamik schiebt so kurzweilig wie homogen meist am Anschlag, zieht wie ein schwarzes Loch in immer klaustrophobischere Tiefen.
Besonders erwähnenswert sind neben den den vier Nummern der Selbstbetitelten aber im beinahe vollständigen Aufgebot von You Won’t Get What You Want (das ausgerechnet City Song und The Flammable Man ausspart) etwa das giftige Satan in the Wait, der tranceartige Sinnlichkeitstanz Less Sex und das vom textsicheren Publikum bis in den Exzess getragene Guest House, in denen der Abend zu einem schwitzenden, keuchenden, drängenden Gemeinschaftsereignis wird.

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Mehr als alles andere ist eine Daughters-Show mittlerweile aber Zeugnis der selbstkasteienden Exorzismen des Alexis S.F. Marshall geworden, der wie ein manisch unter Spannung stehender Zeremonienmeister über dem unerbittlich brütenden Organismus pendelt, den seine  Band ausbreitet und zu einem exzessiven Mahlstrom anrührt, der den Frontmann an- und auspeitscht. Marshalls Körper ist bereits vor der Show von Wunden übersäht, es werden nach exakt einer Stunde schonungsloser Folter in der kleinen Halle noch weitere drangsalierende Verletzungen hinzukommen, die das von blauen Flecken und Striemen bereits so malträtierte Fleisch zeichnen.
Den Mikroständer hat Marshall schon vorab von der Bühne getragen, funktioniert in weiterer Folge das Mikrofonkabel von der Decke pendelnd zum fetischaufhängenden Strangulationswerkzeug um, attackiert ein zweites mit seinem angriffslustigen Spoke Word-Gesang und sich selbst durch Schläge auf die blutende Stirn, die Oberschenkel, die Brust, rammt sich das Mikro in den Mund bis er beinahe erbricht. (Vollkommen demolierte Andenken daran gibt es übrigens am Merchstand zu erwerben). Der Frontmann kratzt sich wund, schlägt um sich und würgt sich mit seinem Gürtel, treibt sich wie besessen Dämonen aus, die hier beängstigend intensiv greifbar werden.

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Dieser Grad an Zelbstzerstörung ist an sich kein Entertainment, das Publikum  flippt dabei allerdings trotzdem aus. „They come to see me die“ schreibt Marshall kurz vor dem Auftritt und braucht die fiebrigen Reaktionen auf diese Selbstgeißelung offenbar aber im Gegenzug an diesem Abend auch, um den anvisierten Ausgleich zu alten Süchten zu erzwingen, um überhaupt eine Verbindung zum Publikum zu finden, ein Interesse an der Masse vor ihm zu generieren, die er teilweise regelrecht angewidert oder zumindest distanziert anstarrt – immer wieder stürmt er abgelenkt von der Bühne, wird von Stimmungsschwankungen aktuell merklich zerrissen.
Seine Miene verzieht sich jedenfalls nur dann zum irren Funkeln in den Augen, wenn etwa der Pit wie im finalen Ocean Song vollends in Extase und über die Plattengrenzen hinausbrechend außer Kontrolle gerät, Nicholas Sadler simultan sein Effektpedal zu erdrosseln versucht. Dann ist der opferwillige Marshall in seinem Element, wirkt wie eine Mischung aus David Yow, Nick Cave und Damian Abrahams in den destruktiven Hochphasen von Fucked Up, steht aber als Gallionsfigur einem aktuell beispiellosen Aggressionsventil vor: Konzerte von Daughters sind kein Spaß, aber ein markerschütterndes Erlebnis und pure Katharsis.

Setlist:
The Reason They Hate Me
The Lords Song
Satan in the Wait
The Dead Singer
Our Queens (One Is Many, Many Are One)
Long Road, No Turns
Less Sex
The Hit
The Virgin
Guest House
Daughter
Ocean Song

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