Die Alben des Jahres 2018: 10 bis 01
218 Songs | HM | Kurzformate | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01 |
10.
Deafheaven
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Ordinary Corrupt Human Love
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Natürlich haben eine Menge Bands schon Shoegaze und Black Metal kombiniert, bevor Deafheaven mit ihrem Sensationserfolg Sunbather 2013 auf der Mainstream-Bildfläche erschienen sind (darunter auch sie selbst, zwei Jahre zuvor). Sie waren nicht die ersten, die den Black Metal aus eiskalten vernebelten Wäldern auf sonnige Lichtungen in Dur gezerrt haben und sie waren auch nicht die ersten, die durch diese Musik Hoffnungslosigkeit und aufrichtige menschliche Emotionen statt dornengespickter Trveness kanalisiert haben. Aber keine andere Band hat dies mit so viel Leidenschaft, Geschick und Konstanz getan. Mit Sunbather machte die mittlerweile zum Quintett angewachsene Band aus San Francisco spektakulär bemerkbar und gleichzeitig auch zur Zielscheibe puristischen Zorns, den New Bermuda 2015 etwas ziellos aushebeln sollte, es aber zumindest geschafft hat, ihren Horizont noch mehr zu erweitern. Von Ordinary Corrupt Human Love konnte man nun vielleicht tatsächlich erwarten, dass Kerry McCoy, George Clarke und Co. zurück zu ihrer Mitte finden. Dass die Sache jedoch so mitreißend, so transzendet ausfallen würde, kam dann doch überraschend: Deafheavens vierte und vielleicht beste Veröffentlichung ist ihr definitives Statement 2018, ein wunderschönes, mitreißendes Epos voller kompromissloser Schönheit.
Zum großen Teil ist dies auf Kerry McCoys inspirierte Gitarrenarbeit zurückzuführen. Die bluesigen Soli, die auf New Bermuda noch etwas verloren plump geklungen haben, haben sich in einer Dekadenz entwickelt, wie es für andere Gitarristen des Genres schwer erreichbar scheint. Es wird mit epochalem Alternativ-Rock und sommerlicher Nostalgie geliebäugelt, ohne jedoch den hart metallischen Klang von New Bermuda völlig aus dem Rückspiegel zu verlieren. Wenn das unantastbare Sunbather hier zitiert werden darf, dann vielleicht mit der Anmerkung, dass dessen „geschlossenes Augenlid gen Sonne“-Cover besser zum aktuellen Release von Deafheaven gepasst hätte. Mit Black Metal hat das freilich schon lange nichts mehr zu tun, aber wen kümmert das schon? Deafheaven haben sich endgültig freigeschwommen und in eine Position gebracht, die für Album Nummer 5 ein völlig neues Spektrum an Optionen öffnet.
09.
Anna von Hausswolff
–
Dead Magic
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Während Marissa Nadler sich von ihrem angestammten Betreuer Randall Dunn trennte und mit For My Crimes daraufhin ihr bisher wohl am wenigsten essentielles Album aufnahm, hat der Meister-Produzent aus Seattle Anna von Hausswolff mit ihrem vierten Studiowerk zu einem bisherigen Karrierezenit verholfen.
Dass es dazu kommen konnte, war für die kindliche Schwedin mit dem Hang zum Düsteren, Morbiden und Verstörenden nach ihrem Zweitwerk [amazon_link id=“B0141OZ5F0″ target=“_blank“ ]The Miraculous[/amazon_link] von 2015 jedoch alles andere als selbstverständlich: „Als ich das Album geschrieben habe, befand ich mich in einem Zustand totaler Hoffnungslosigkeit und Passivität. Ich hatte das Gefühl, meine Neugier und jegliche Kreativität verloren zu haben. Trotzdem habe ich mit der Musik immer weiter gemacht und darauf vertraut, dass die Routine mich wieder auf die Beine bringt – und als es mir nach einigen Monaten wieder besser ging, konnte ich die Kompositionen mit meinem wiedergewonnenen Enthusiasmus überarbeiten“ erinnert sich von Hausswolff, will das Konzept hinter Dead Magic aber nicht weiter erklären – auch mit Blick auf die eigene Vergangenheit: „Ich werde die Kunst und den Menschen dahinter immer trennen. Dafür ziehen mich zu viele Themen an, die extrem sind – und von extremen Menschen gemacht werden„.
Ein extremes Werk ist Dead Magic tatsächlich geworden, ein schwarzes Loch von stellarer Erhabenheit inmitten von Postrock-, Darkwave- Ambient- und Goth-Gestirnen, überwältigend und erhebend schön in seiner Abgründigkeit. „I like to play with the idea that there is more to this world than just me and myself, and create a world around imagination and fantasy, to make myself less important. It’s like watching an ocean or the horizon when you become very small and become absorbed in this beautiful landscape. Digging into the spiritual and ghost stories works in similar way, it makes me forget about space and time, it’s eternal and mysterious. I like to hold on to these unknown things.“ sagt die 32 Jährige und erklärt dann zumindest die Konsequenz hinter diesen 47 Minuten: „Ich habe nicht an der Musik, sondern an mir gezweifelt.“ Gewachsen ist daraus ihr – bis auf weiteres – definitives Opus Magnum.
08.
Pusha T
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DAYTONA
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Rückblickend wirkt der einleitende Publicity Stunt des 2018 komplett am Rad drehenden Kanye West noch unnötiger, als bereits beim Erscheinen von DAYTONA: Knapp sieben Monate nach dem relativ spontanen Release kann sich jedenfalls wohl niemand mehr ad hoc daran erinnern, wieviele Münzen Ye für das Bild von Whitney Houstons Kokainschublade auf den Tisch geknallt hat.
Geblieben sind aber die hinter der mediengeilen Fassade jeden Trend und Zeitgeist aushebelnden sieben superpräzise Tracks, die die Fähigkeiten des streitbaren Produzentensuperstars im Hintergrund ebenso erfolgreich auf den Sockel heben, wie sie einen Pusha T in absoluter Höchstform präsentieren: „This whole album is seven songs, and what I was trying to do in the seven songs was just speak and galvanize all the energy of what happens in my world.“ DAYTONA ist komplett, bis auf seine fast schon zu stringente Kompaktheit makellos und ohne Füller zu Ende gedacht.
Besser als in diesen nahezu makellos konzentrierten 21 Minuten war dann übrigens keine der nachfolgenden vier Wyoming-West-Paraden – das hemmungslos zerfahrene YE, das sehr gute KIDS SEE GHOSTS, ein enttäuschendes NASIR noch das famose K.T.S.E. – und auch Terrence LeVarr Thornton selbst tatsächlich selten. Zumindest auf keinem seiner zahllosen weiteren Features 2018, auch nicht der wenig später folgenden Drake-Zerstörung The Story of Adidon – höchstens auf dem hauseigenen Vorgänger King Push – Darkest Before Dawn: The Prelude.
Ob dem tatsächlich so ist, dürfen die kommenden Jahre zeigen – denn, was am wichtigsten ist, das mittlerweile Grammy-nominierte, die Achse aus Qualität und Quantität praktisch perfekt bedienende DAYTONA wird wohl ohne Ablaufdatum bleiben.
07.
Carpenter Brut
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Leather Teeth
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Bringt also doch etwas, ein Jahr erst ganz vorübergehen zu lassen, bevor man so etwas wie diese Liste hier an die Öffentlichkeit bringt: Just am 1.1.2019 hat Franck Huesco alias Carpenter Brut seinem ersten richtigen (!) Album Leather Teeth die letzte, eigentlich schon von der Thematik bedingte, Facette verpasst, und zu jedem der 8 Songs auf dem Album ein (mindestens fragwürdiges) Video veröffentlicht. Auch ein Weg ins neue Jahr zu starten, wenngleich ein erstes Lebenszeichen des zweiten Teils dieser proklamierten Trilogie bevorzugt gewesen wäre.
Denn wenn Leather Teeth außer beinahe bedingungsloser Begeisterung noch etwas zurückgelassen hat, dann war es Lust auf mehr. Wo Synthwave schon generell keine Musikrichtung ist, die über eine hohe Hemmschwelle verfügt oder eine lange Eingewöhnungszeit abverlangt ¬– und wohl auch gerade deshalb so viele Vertreter sehr schnell Abnutzungserscheinungen zeigen – legt Franck B. Carpenter, wie sich Huesco als Teil dieses Projektes nennt, ein absolut süchtig machendes Amuse-Gueule vor, das den Modus Operandi der EP-Sammlung [amazon_link id=“B071L7MRP2″ target=“_blank“ ]Trilogy[/amazon_link] gekonnt aufbricht und mit unstillbarem Verlangen nach mehr auf Repeat läuft.
Leather Teeth feuert im Stakkato Momente ab, die beweisen, dass Huesco Trilogy genau unter die Lupe genommen und erkannt hat, dass es Zeit ist, sein Revier zu markieren. Es gibt hier zwar genug an Wiedererkennungswert – niemand hat diesen schmutzigen Synth-Sound so heraus wie er – aber die gesamte Atmosphäre des Albums, die unzähligen neuen Inspirationen und Ankerpunkte, die allgemeine, ganzheitlich konsistente Ausrichtung und die Präsenz dominanter Sänger deuten alles auf einen Prozess hin, den Huesco seit den letzten Werken erarbeitet hat, und er hat seine Sache gut getan.
Einer der Songs des Jahres (DER Song des Jahres?), Cheerleader Effect, tanzbar in seiner genialen Symbiose aus Dark- und Synthwave und cool mit Kristoffer Rygg (Ulver) am vor Geilheit berstenden Mikrofon, ist eine Meisterleistung von einer Zeitkapsel und spricht dafür Bände. Leather Teeth ist die spektakuläre Antwort auf alle, die Carpenter Brut bereits im stickigen Synthwave-Sumpf untergehen gesehen haben.
06.
Chastity
–
Death Lust
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Eine waschechte amerikanische Vorstadt-Quaterlife-Crisis kanalisiert durch ein Kaleidoskop aus Gitarreneinflüssen der 90er-Jahre klingt auf dem Papier, als wäre das Debut von Brandon Williams‘ Chastity dem Malen-nach-Zahlen-Kasten für Pitchfork-Promos entsprungen. Welpenschutz ist hier allerdings nicht angesagt, zu ansatzlos klatschen sich Hard- und Emo-Core, Grunge, Noise und Pop ab und nehmen im Vorbeigehen noch wie der Sinn gerade steht Deftones-Pathos und Feeder-Leichtigkeit mit, zu sehr schlägt das Pendel für Chastity schon in Richtung Meisterwerk statt Talentprobe aus. Death Lust ist ein Quasi-Konzeptalbum, das seinen Bogen durch die Suburbs von Ontario von Verzweiflung über Isolation bis hin zu reflektierter Gesellschaftskritik spannt – natürlich kein augenscheinliches Alleinstellungsmerkmal, und doch präsentiert Williams diese Themen so zentral und mit einer derartigen Aufrichtigkeit, soviel DIY-Charme und mit einer solch offensichtlichen Leidenschaft für seine vielseitige Musik im Rücken, dass es verwundert, dass Chastity noch nicht zum absoluten Genre-Darling aufgestiegen sind. Der Grundtenor von Tracks wie Negative With Reason To Be leihen sich die Grundstimmung zwar zu einer gehörigen Portion von Deftones und Co., ihre emotionale Tiefe und die kunstvoll dynamischen Veränderungen, die sie durchmachen, sprechen jedoch für Chastity selbst – diese Einflüsse werden nun mal assimiliert wenn man mit ihnen aufwächst. Und das Talent zur Unpeinlichkeit hat.
Brandon Williams lotet ein lyrisches Inventar aus ängstlichen Schlafzimmerbeichten, Berichten von Vorstadtszenen, verzweifelten Versammlungsrufen und shitty conspiracy theroies zusammen, berichtet von verheerenden persönlichen Krisen und möchte sein inneres Leid und die daraus gezogenen Lehren letztendlich dazu nutzen, seine Community in die Gänge zu bekommen und seine emotionale Abwärtsspirale in einen Kompass umzuwandeln, der ihm und anderen bei der Navigation durch diese Welt behilflich ist. Auch wenn sie hinter langsam malmenden Gitarren knurren, hinter scheppernden Rückkopplungen aufflackern oder nach polternden Fills gar nicht wieder darauf warten können, ins Rampenlicht zu treten, Williams‘ Zeilen sind äußerst lebensbejahend und wollen gegen die gefährlichen Hierarchien des Mainstreams bewaffnen: „Don’t waste your pain on hate / Start your life outside of the chains“. Death Lust ist das Sprachrohr eines Mannes, der genug davon hat, zurückgehalten und aufgefordert zu werden, sich einer Gesellschaft anzupassen, von der er nie wirklich Teil sein wollte, der den Moshpit von einem abgegrenzten Eliteclub zu einem Zufluchtsort für alle Leidensgenossen machen möchte. Ein desillusionierter Klagegesang, der es verdient hat, gehört zu werden.
05.
Yob
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Our Raw Heart
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Our Raw Heart ist eine ebenso bedrückende wie mitreißendes Manifest der Zeitlupen-Heavyness, ein kathartisches Album, das entstanden ist, nachdem Gitarrist und Sänger-Schamane Mike Scheidt Anfang letzten Jahres eine schwere Divertikulitis erlitten hatte und beinahe daran gestorben ist. Dadurch glänzt es vor einer seltenen Schönheit, einer Lebensfreude, die man im Doom-Metal überaus selten spürt. Die Musik ebbt ab, schwillt an und fließt von balladenähnlichen Meditationen à la Earth nahtlos Richtung des ätzenden Morasts von Yobs frühen Platten.
Das Album beginnt wehmütig, der dröhnende Fluss von Ablaze, der irgendwo zwischen Schwermut und Melodie gefangen ist, wird von Scheidts gefühlvollem Gesang unterstrichen. Es herrscht eine feierliche Atmosphäre und eine Sehnsucht nach Vergessen, hier stößt Our Raw Heart vielleicht noch am ehesten in die Gefilde von Yobs letztem Release, Clearing The Path To Ascend vor, klingt aber noch insgesamt kühler und ernsthaft erhaben. Diese rohe Anmut und die angedeutet aufkeimende Hoffnung fehlen im zentralen Triptychon der Platte, das sich stattdessen an die dunkleren Elemente des menschlichen Seins richtet. Es sind quälende und wütende Stücke die von schmutzigen Riffs, knarzenden Basslinien und harten Snares vorangetrieben werden. The Screen taumelt mit einem einschüchternden Gewicht vorwärts, während sich Scheidts Croon langsam zu bedrohlichen Growls verformt, das einfache Intro von In Reverie explodiert bald zu einem düsteren Doom-Metal-Epos.
Während diese negativen Gefühle ein wesentlicher Bestandteil von Scheidt‘s Selbstfindung sind, feiern Travis Foster, Aaron Rieseberg und er letztlich eine neue Wertschätzung für das Leben. Die abschließenden Lieder, das lange und nachdenkliche Beauty in Falling Leaves und der ergreifende Titeltrack zeugen von Bewunderung für die Welt, das Gute und das Schlechte darin. Yob werden nie wieder die Alten sein. Our Raw Heart ist eine Dokumentation der Wiederentdeckung.
04.
Daughters
–
You Won’t Get What You Want
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Acht Jahre nach ihrer letzten, selbstbetitelten Veröffentlichung, der man das Damoklesschwert, das über ihr hang, gut anhören konnte, kehren die Post-Hardcore-Wissenschaftler Daughters mit einer LP zurück, die ihren Sound dekonstruiert und zu einem völlig neuen Klangmonster aufbaut. Wie das nun mal so läuft: in bester Tradition des beginnenden Jahrtausends nimmt man 2003 noch so wunderbar betitelte Songs wie Nurse, Would You Please Prep the Patient for Sexual Doctor auf und verkauft grell gelbe Shirts mit Vaginafledermäusen und plötzlich sind alle erwachsen und haben die Midlife-Crisis mit Hilfe der Swans überstanden. Ja, die ehemaligen Grind-Derwische haben sich bereits mit ihrem zweiten Album [amazon_link id=“B000GFRDWC“ target=“_blank“ ]Hell Songs[/amazon_link] ein erstes wichtiges musikalisches Denkmal gesetzt, es darf allerdings prophezeit werden, dass sie für You Won’t Get What You Want in Erinnerung bleiben werden. Ausgehend vom bedrohlichen Groove und den Hooks aus der Hölle, die Daughters nach [amazon_link id=“B000254SB0″ target=“_blank“ ]Canada Songs[/amazon_link] zu pflegen begannen, verdunkelt ihr aktuelles Album ihren distinktiven Klang noch weiter mit immer fremdartiger klingenden Gitarreneffekten, minimalistisch industriellen Keyboards und einer endgültig kaputten Stimme zwischen Steve Albini und gefoltertem Elvis Presley.
Die Expedition der Daughters in die Gefilde des wahrhaft kaputten Post-Hardcore dauert nun schon beinahe ihre gesamte Karriere an und kulminiert auf You Won’t Get What You Want zu etwas Besonderem. Bequemerweise könnte man von einem Noise-Rock-Album sprechen, das würde jedoch den vielen dunklen Haken, die geschlagen werden, der zerstörerischen Atmosphäre, dem Anspruch, der hier an den Hörer gestellt wird, nicht gerecht werden. Man tut ja auch die Glanzleistungen von The Jesus Lizard nicht als College Rock ab. Daughters reichern ihr zähes Süppchen mit dem beunruhigenden experimentellen Art-Punk der (früheren) Liars, dem misanthropischen Alltagssarkasmus von Andy Falkous und dem originellen Post-Punk von Birthday Party an. Als eines der frühen Albumhighlights, und einer der besten Songs von Daughters überhaupt, steht Satan in The Weight für die emotionalen Crescendos, die das Album ausmachen: dräuende Sirenen und schabender Bass drücken bis zum Bersten durch die Strophen bis die Erlösung in Form des erhabenen Refrains winkt, den auch die Simple Minds eines Paralleluniversums hätten schreiben können. Gerade die Ein- und Ausgangsphasen der Platte vermitteln unmissverständlich den Eindruck, dass Daughters ein Album kreieren wollten, dass den Hörer quasi zum Fühlen zwingt. Und es fühlt sich meistens nicht gut an. You Won’t Get What You Want ist nichts weniger als ultimativ intensiv und fesselnd, Qualitätsmerkmale, die sich nicht viele derart gelagerte, experimentellere Noise-Alben auf die Fahne schreiben können – es gibt ein Leben nach den Swans.
03.
Crush
–
Sugarcoat
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Was wurde nicht alles über das so lange herbeigesehnte erste Studioalbum von Crush geschrieben, als Sugarcoat dann endlich erschienen war. Dass das Quintett aus Graz die „tiefgründigsten Banalitäten des Lebens“ vertone und dazu den „perfekten Soundtrack zum Coming-of-Age-Film des eigenen Lebens“ liefere etwa. Oder dass die versammelten 35 Minuten der Platte ja vielleicht sogar „Liebe als Konzept des psychischen Ausnahmezustands“ darstellen könnten, während sich die Vergleiche zu unzähligen Inspirationsquellen die Klinke in die Hand geben und die Band selbst von „verträumten Gitarrenpop-Songs mit Synthesizern“ spricht.
Und sicher trifft all dies durchaus die Atmosphäre von Sugarcoat bis zu einem gewissen Grad, teilweise sogar erstaunlich perfekt, während eine zumindest assoziativ durchaus derart in den 80ern und 90ern verankerte Platte freilich schlimmeres erleben könnte, als all die – niemals zu hoch gegriffenen – Vergleiche mit unsterblichen Helden wie den frühen R.E.M, Cocteau Twins oder Beach House, mit Blondie oder weiter zu den Long Blondes: Man darf die zutiefst homogene Geschlossenheit der zehn versammelten Nummern in ihrer zwingenden Nonchalance zwischen bittersüßer Naivität und zielstrebiger Abgeklärtheit sogar wie das Mixtape nach Benders Gang in ein erfüllteres Leben verstehen, wenn auch mit mehr Sonnenschein am wärmenden Horizont.
Allerdings greift all dies doch auch in ähnlicher Form zu kurz, wie man Crush-Songs auf den flüchtigen Erstkontakt hin nur zu leicht als oberflächlichen Melodiereigen in netter Vergänglichkeit einstufen kann, nur um den restlichen Tag all die Ohrwürmer nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen und einige Monate später vor der vollendeten Tatsache zu stehen, dass man heimlich still und leise längst sein Herz an diese Band verloren hat. Ohne zur Überanalyse zu verführen, hält Sugarcoat die Dinge dankenswerterweise insofern eigentlich ziemlich simpel: Crush haben sich zwischen all ihren Einflüssen längst eine charakteristische eigene Nische besetzt, ihren eigenständigen und mittlerweile primär selbstreferentiellen Sound mit Hilfe von Wolfgang Möstl auch gleich perfektioniert – und damit allem, was zwischen anachronistischem Dreampop und liebenswertem Indierock passieren kann, dass schönste Geschenk des Jahres gemacht.
Wichtiger, als dass man die Sugarcoat mit den beiden EPs No Easy Way und Damaged Gods im Rückspiegel vom ersten Moment mit der Vertrautheit eines schon lange wertgeschätzten Freund erkennen kann, ist mit knapp einem halben Jahr Abstand deswegen auch die tröstende Sicherheit, ein wenig sehnsüchtig und mit versöhnlich lächelnder Euphorie nach vorne zu blicken: Dieses wundervolle Platte wird einen ein Leben lang begleiten.
02.
Thou
–
Magus
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Thou waren in ihren 13 bisherigen Jahren immer eine Bank: ein konstanter Strom an Veröffentlichungen, deren Qualität nicht und nicht abreißen wollte, hat – zumindest hier – so etwas wie die Schirmherrschaft über die Hoheitsgebiete Doom und Sludge eingebracht. Nachdem es nach ihrem letzten Album von 2014, Heathen, recht still um die Band aus Baton Rouge, Louisiana wurde, konnte das entweder bedeuten, dass sie sich aufgelöst haben, oder etwas Großes im Busch ist. Und tatsächlich sollte der Sommer 2018 zum Summer of Thou werden, mit drei so unterschiedlichen wie hervorragenden EPs, die die Wartezeit auf ihr neuerliches Meisterwerk Magus verkürzen, und, wie sich im Nachhinein herausgestellt hat, auch als Pendants dazu zu verstehen sind, die jede für sich auf wunderbare Weise bestimmte Aspekte von Magus besser ausgeleuchtet und ihnen mehr verdienten Raum zum Atmen verliehen haben – und doch der schieren Wucht und immensen Bandbreite des Mutterschiffs nicht gerecht werden, flickt Magus diese Ideen nicht bloß einfach wieder zusammen.
Zwei Dinge stechen auf Magus sofort hervor: Die superbe Produktion von James Whitten, die alleine über den Sound der Drums zu feuchten Genre-Träumen führt, und die Nuancen der tektonischen Heavyness über den lyrisch geifernd-kotzenden Nihilismus in allen Facetten der Finsternis ausstaffiert und Frontmann Bryan Funcks unverfälscht hasserfüllten Vocals, die alleine schon ausreichen würden, um Thou mindestens einen Kopf über ihren Zeitgenossen hervorragen zu lassen. Was Thou außerdem brillant können – vielleicht besser als jeder andere Genrevertreter – ist das Verschieben einer Melodielinie oder -textur hin zu etwas völlig fremd anmutendem, jedoch ohne einen Anflug von Dissonanz oder Fehlklang. Gerade in den ausgedehnteren Songs geschieht dies oft mehrere Male in zehn Minuten, werden rhythmische Themen elegant zurückgenommen, dröhnenden Bassläufe hinzugefügt und das heulen der Gitarren leicht und langsam abgewandelt, bis der gesamte Song sich quasi unbemerkt in eine völlig andere Baustelle verwandelt hat.
Wenn es hier überhaupt einen Kritikpunkt gibt, dann, dass Thous konsistent hochwertiger Output auch über diese 75 Minuten vielleicht (wieder einmal) etwas zu übermannend ist, gerade für geneigte Hörer, die die Band mit ihrem ersten Release auf Sacred Bones gerade erst entdeckt haben. Ähnlich wie die (ebenfalls wieder einmal) legitime Frage, ob dies nun das bisher beste Werk der Band ist, sollten solche Hemmschwellen aber nicht davon ablenken, dass Magus ein weiterer Beweis dafür ist, dass Thou zu den größten Metal-Bands der Welt gehört.
01.
Low
–
Double Negative
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Jedes Album wird zu einem gewissen Grad von den Umständen und dem Umfeld, in dem es geschrieben und aufgenommen wurde, beeinflusst. Double Negative, das zwölfte Album des Trios Low aus Minnesota, macht dies besonders spürbar. Low und ihre Werke sind vielleicht selten offen politisch, das jüngste Meisterwerk der Slowcore-Legenden hinterlässt jedoch keinen Zweifel, dass es eine direkte Antwort auf die aktuellen Geschehnisse in ihrem Heimatland ist. Diese elf Tracks machen klar, dass es für Low im Moment einfach keine Option ist, ein „reguläres“ Album aufzunehmen.
Die ersten sechzehn Minuten von Double Negative – eine das Album einleitende Trilogie – ist die spannendste Musik, die das vergangene Jahr und Low je zu bieten hatte. Quorum eröffnet das Album kaputt verzerrt, walzt sich rhythmisch in schwindelerregende Höhen. Alles klingt verzweifelt und verletzt, die Nerven liegen blank. Während der Verschmelzung mit Dancing & Blood, verwandelt sich das wabernde Rauschen in einen beharrlichen pochenden Beat – erst jetzt wird langsam klar, dass die Kopfhörer nicht kaputt sind. Parkers Stimme entkommt diesem Sumpf kaum, schwebt aber schließlich doch gewohnt erhaben über der Kakophonie und gibt dem Album den ersten menschlichen Augenblick, bevor die Statik den Song wieder einholt. Momente wie dieser werden auf Double Negative noch öfter vorkommen, als ob Low mit einer Regelmäßigkeit versuchen, Interferenzwolken zu durchdringen, um mit dem Hörer zu kommunizieren. Momente, in denen Hooks und Melodien aus dem Alien-Lärm hervortreten: Fly ist eine fragile, von Mimi Parker gesungene Soul-Ballade, unterbaut von surrender Elektronik. Dancing and Fire ist Old-School Low der frühen 00er-Jahre, weniger als Beweis, dass sie es noch können, vielmehr ein Zeugnis dessen, dass Lows frühere Herangehensweise auch neben ihrer neuen Arbeit Raum finden kann. Und das abschließende Disarray ist ein fröhliches, von weitem erkennbares Schlaflied, dessen pochende, nervöse Produktion seine im Herzen liegende Wärme nicht verbergen kann. Die meiste Zeit über sind die von uns bekannten Low jedoch nicht wiederzuerkennen.
Es ist sowohl überraschend als auch erfrischend, dass eine Band mit 25 Jahren auf dem Buckel und 12 Alben auf dem Zähler mutig genug ist, ihre Songwriting-Trademarks mit einer solch zerschossenen Produktion mutwillig zu verschleiern. Während die Zusammenarbeit mit Produzent BJ Burton schon erfolgreich Lows Sound auf dem letzten Album [amazon_link id=“B010A9C2I8″ target=“_blank“ ]Ones And Sixes[/amazon_link] verbreiterte, macht die Entscheidung, maßlos darüber hinaus zu gehen, Low eine Freude, die Double Negative anzuhören ist – trotz aller Dunkelheit, die im Kern des Albums liegt. Selten resultieren Kollaborationen von Bands und Produzenten in solchen radikal-wilden und befriedigenden Ergebnissen.
Double Negative ist ein Album, das lange Bestand haben wird. Es ist eine aufregende Evolution, die beweist, welch hohe Standards Low an ihre Musik stellen und welche unruhige Kreativität noch in ihnen steckt. Wir mögen in einer wütend machenden Zeit, in einer verwirrenden Welt leben, für die Low zumindest eine vorübergehende Alternative bietet – auch wenn es keine leicht zu verdauende ist. Alleine dafür gehört Double Negative gefeiert.
DerTobi - 12. Januar 2019
Die Jahrescharts sind wie immer das Highlight unter den zahllosen Listen im Netz. Danke für die vielen Entdeckungen!