Die Alben des Jahres 2023: 30 – 21
| HM | EPs | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01 | Playlisten |
30. Mizmor – Prosaic
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Der mit etwas Abstand wohl interessanteste Aspekt am aktuellen Portugal. The Man-Album Chris Black Changed My Life ist die Entscheidung der Band, den daraus entnommenen Song Doubt Liam, dem kleinen Bruder ihres ehemaligen Keyboarders Ryan Neighbors, für eine Neubearbeitung zu überlassen. Interessant deswegen, weil dieser als Mizmor seit gut einem Jahrzehnt zum besten gehört, was der Metal im Radius aus Black-, Doom- und Sludge- zu bieten hat.
Seit Cairn (2019) hat sich der Portlander mit Ambient-Installationen (Dialetheia, 2019) und Kooperationen (Myopia, 2022) die Zeit vertrieben, nun trat er für Prosaic jedoch erst mit viel verfluchtem Geschrei umso konstanter auf das Gaspedal, um seine depressive Melancholie mit einem erstaunlich direkten, unablenkbaren Zug in eine sekuläre Katharsis zu führen, bevor er Doubt dann ziemlich ansatzlos in diese neue Griffigkeit assimilierte, wie er berichtet: „Anstatt alles zu entfernen und von Grund auf neu aufzubauen, wie es viele Remixe tun, konnte ich die Akkorde fast direkt an meinen Stil anpassen.“
29. Prizes Roses Rosa – Burned Car Highway Light Volcanic
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Viel Lärm um nichts konkretes: so wenig Benjamin Fitchett sich auf ein einziges Alias festlegen will, und deswegen weiterhin ebenso hochfrequent unter Prizes Roses Rosa, Panda Rosa oder p rosa veröffentlicht, so selbstverständlich legt er sich nicht auf eine stilistisch klar zu verortende Kategorisierung seiner Musik fest. Von der Neo Psychedelic bis zum experimentellen Postrock verwebt der Australier rund um für allgegenwärtige Auftrittsfläche sorgende Samples ambiente Collagen aus Plunderphonics-Sammelsurien, Dream Pop-Ideen und Avantgarde-Folk-Themen, in denen griffige Motive wie zufällig auftauchen und hängen bleiben, faszinieren und orientierungslos im Mäandern zurücklassen.
Und dennoch ist das vereinnahmende Burned Car Highway Light Volcanic als uferloser, keinem Spannungsbogen folgender kreativer Trip ins ziellose Kaninchenloch doch auch ein Konkretisierung-Prozess für Fitchett, indem er hier die Vorhaben des Vorgängeralbums The Kinspiral auf nur noch rund 2 Stunden destilliert und dabei ein stärker ausgeprägtes Händchen für Einzelszenen zeigt.
28. JPEGMAFIA x Danny Brown – Scaring the Hoes
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Wie exzellent die Chemie zwischen Danny Brown und Barrington Devaughn Hendricks aka JPEGMAFIA stimmt, demonstrierte das uknowhatimsayin¿-Highlight Negro Spiritual derart eindrucksvoll, dass man seit 2019 von einer weiteren Kooperation der beiden Extravaganzen Rap-Paradiesvögel träumen musste.
Geworden ist es nun, vier Jahre später, mit Scaring the Hoes (nebst der nachgereichten DLC Pack-EP) sogar ein ganzes Album – das dann auch mit einer euphorisierenden Rasanz ziemlich mühelos hält, was der allgemeine Hype um die Gemeinschafts-Platte im schnappatmenden Feuilleton und Kopf-stehendem Netz verspricht: chaotische Experimente aus dem Beat-Baukasten, sardonische Hedonien in den überdreht funkensprühenden Bars, ein weirder Flow und so viel eigenwilliger Humor, dass das immense Talent, welches in diesem kurzweiligen Spektakel steckt, vom Over-the-Top-Irrsinn beinahe schwindelig gedreht wird, ohne dass einem die Party jemals auf den Sack gehen würde.
Dass Danny Brown selbst seinem Solo-Stück Quaranta einen Gang hinunterschalten musste, ist absolut verständlich. Und nur minimal weniger brillant.
27. Joanna Sternberg – I’ve Got Me
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Der Fehler, in diesem Zweitwerk nur das bestmögliche Methadonprogramm für die Abwesenheit von Jessica Pratt (seit deren Quiet Signs im Jahr 2019) zu hören, ist aufgrund der ähnlichen Stimmfarbe und Intonation von Joanna Sternbergzwar sicherlich entschuldbar – ihn zu korrigieren, dauert aber im Grunde keine 136 Sekunden.
Also jene Zeit, die der titelstiftende Opener von I’ve Got Me sich nimmt, um auf eingängige Weise unter die Haut zu gehen, traurigen Schmerz mit der munteren Lebendigkeit salopper Singer-Songwriter-Niedlichkeiten und der bittersüßen Melancholie der Folk-Nostalgie zu umarmen.
Und überhaupt: Wie kann eine inhaltliche Verzweiflung so salopp flanieren, dass so viel musikalische Unbekümmertheit emotional derart aufwühlen? Ja, I’ve Got Me ist keine Ersatzdroge, sondern ein ähnlich veranlagtes Album mit abschließender Ansage: „If I had anything left to lose/ Then I wouldn’t be playing the blues.“
26. Bell Witch – Future’s Shadow Part 1: The Clandestine Gate
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Future’s Shadow Part 1: The Clandestine Gate kann aus demselben Grund eine Enttäuschung sein, aus dem es eigentlich eine zutiefst befriedigende Erfahrung ist: Bell Witch zelebrieren ihren patentierten Signature-Funeral Doom. Nicht mehr (wobei der sakrale Aspekt des Sounds durch ein Plus an Orgel-Teppichen forciert wird und das Songwriting runder und reibungsloser seine Trademarks einsetzend geworden ist), nicht weniger.
Man kann The Clandestine Gate auf seiner relativen Verwalter-Schiene insofern zwar durchaus vorwerfen, in all seiner melancholischen Verzweiflung und walzenden Grandezza nicht an den 2017er-Triumph Mirror Reaper als mutmaßlichen Zenit der Bandgeschichte heranzureichen. Weil 83 Minuten ohne Klimax des Spannungsbogens nur sehr bedingt von einem ökonomischen Auftreten zeugen; die Katharsis keine solche Intensität erreicht wie auf dem direkten Vorgänger, Four Phantoms von 2015 oder gar dem den Erwartungsdruck kaum ableiten könnenden Stygian Bought.
Doch Strick lässt sich daraus eigentlich keiner drehen: der erste Part vom dreiteiligen Future’s Shadow (dessen noch ausstehende Segmente bisher nur einen ungefähren Fahrplan haben, aber momentan noch weit von der Fertigstellung entfernt sein dürften) fühlt sich primär wie eine Exposition an, die stark genug ist, um selbst im Schatten der Vergangenheit für sich selbst stehen zu können. The Clandestine Gate zementiert letztendlich doch mehr als alles andere die Tatsache, dass Bell Witch in einsamen Höhen agieren, wo jeder Schönheitsfehler elementar aufgewogen wird, weil einfach wenig Luft nach oben bleibt.
25. Colter Wall – Little Songs
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Viele der Kollegen, mit denen Colter Wall zeitgleich einen rasanten Aufstieg im Country-Business begonnen hat, sind mittlerweile in veritablen Superstar-Sphären angekommen – nehmen etwa Songs für Martin Scorsese auf, verkaufen Arena-Touren aus oder stellen Chart-Rekorde auf.
Colter Wall bleibt dagegen genügsam. Gibt ein paar Konzert. Arbeitet sonst auf seiner Farm. Und hat ein paar Little Songs aufgenommen.
Die machen rund um das herausragende Cornerstone-Highlight Corralling the Blues wenig anders, als die Vorgänger auf Colter Wall (2017), Songs of the Plains (2018) und Western Swing & Walzes and Other Punchy Songs (2020) – gehen dadurch aber in zeitloser Liedermacher-Kunst ohne viel Durchlaufzeit als im besten Sinne unaufregende, zutiefst authentische Western-Klassiker durch.
24. Xoth – Exogalactic
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Kollegen wie Enforcer oder Demonio mögen auf dem Thrash-Boden der Tatsachen (oder dem Fegefeuer darunter) bleiben und damit klassischer ausgelegt auch weiterhin alles überragend machen, doch Xoth sind die Instanz, was technisch virtuose Interstellar-Husarenritte in den kosmischen Sphären des Genres mit veritabler Power Metal-Geste, Blackened-Garstigkeit, purem Gitarren-Wahnwitz und extraterrestrischen Melodeath-Hyperraumflügen zwischen Archspire, Vektor, Watain oder The Black Dahlia Murder (vor deren Nocturnal sich das Artwork von Exogalactic gefühlt überdeutlich verneigt) angeht.
Dass es zu dieser Status-Festigung gekommen ist, ist jedoch auch einer Rettungsaktion in letzter Sekunde zu verdanken: Als die Promos zum Album längst verschickt waren, fiel nicht zuletzt Tyler Splurgis, Ben Bennett, Woody Adler und Jeremy Salvo selbst auf, an welchem grotesken Sound ihr dritter Langspieler da zu leiden hatte. Weswegen die Band aus Seattle kurzerhand von Jason Williams in den Riffsthatrule-Studios einen neuen Mix anfertigen ließ, der eine Woche vor dem offiziellen Release-Termin das volle Potential einer (auf den Erstkontakt vielleicht ob der anhaltenden Imposanz von Interdimensional Invocations [2019]unterwältigen könnenden, spätestens nach dem dritten Durchgang aber unbedingt zündenden) Sci-Fi-Parade einen Grinsen machenden Arschtritt gab.
23. Chamber – A Love to Kill For
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Chamber beweisen auf ihrem Zweitwerk trotz einer Spielzeit von gerade einmal 28 Minuten zwar vielleicht etwas mehr Durchhaltevermögen und Ausdauer, als ihrem chaotisch-geordneten den Pit explodieren lassenden Math-Metalcore – oder: „Psychotic Mosh Metal From Nashville, TN“ – hinsichtlich einer gewissen Gleichförmigkeit wirklich gut tut. Doch die Konsequenz, mit der A Love to Kill For dabei permanent auf die 12 geht, und auch dann noch weiterprügelt, wenn die eigenen Knöchel schon platzen und jeder Kampf bereits gewonnen ist, ist im Umkehrschluss eigentlich nur umso beeindruckender.
Ein auslaugendes Statement, von Randy LeBoeuf (der derzeit auch mit Jesus Piece, The Acacia Strain oder Kublai Khan auftrumpft) ideal heavy den Produktions-Totschläger schwingend inszeniert, dem die Band nicht nur im Titelsong geradezu existenzialistisch begegnet: „The pain won’t be eased with the calm of death/ This place was made to leave/ But still, our bodies linger“.
22. Sigur Rós – ÁTTA
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Mit Blóðberg, Klettur, Gold, Fall und 8 haben Sigur Rós für ihr (besetzungstechnisch den Wiedereinstieg von Kjartan Sveinsson und Ólafur Björn Ólafsson markierendes, als erstes Studioalbum seit dem Debüt ohne Orri Páll Dýrason auskommendes) Comeback – vier ihrer schönsten Songs überhaupt geschrieben. Und mit ÁTTA den passenden Rahmen dafür geschaffen, indem die Isländer zehn Jahre nach dem erschütternd heavy einwirkenden Kveikur wieder an ihren klassischen Sound anschließen – also pure, majestätische Schönheit in aller ätherischen Andersartigkeit kreieren, die neoklassizistischer Arrangements an einen ambienten Post Rock-Weichzeichner streichelt. Nur in unscheinbarer und subtiler als bisher.
ÁTTA scheitert, wenn überhaupt, insofern nur an der Messlatte jener Magie, die Sigur Rós selbst gerade in der über alles erhabenen Phase rund um den Jahrtausendwechsel für die Ewigkeit erschaffen haben. In den richtigen Momenten überwältigt die Band auch damit aber geradezu subversiv.
21. Crush – Past Perfect
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Dass die großartige Live-Band Crush ihre Songs auf der Bühne noch näher an die Ideallinie bringt als auf Platte, mag man so eigentlich gar nicht sagen, würde es die Leistung von Past Perfect doch gefühlt irgendwie unter Gebühr schmälern. Schließlich bewegt ihr Zweitwerk die Basis der Band mit so vielen Nuancen erfolgreich auf eine breitere Basis, referenziert Einflüsse von The Cure und The Smiths ebenso nonchalant, wie es einen Bogen von der Zackigkeit Maximo Parks zum Dreampop von Beach House schlägt, dabei vom Jangle Pop-Shining in Just Work, No Play weg die absoluten Serotonin-Singles The Rush oder Where Flowers Grow mitnimmt und darüber hinaus Songs wie Daffodils oder Great Unknown serviert, die locker zum besten gehören, was Crush bisher aufgenommen haben.
Past Perfect ist ein Album, dessen ausnahmslos supercatchy zündendes Material (auch mit einem optimalen Releasetermin als Rutsche in den Sommer) sofort an den Angel hatte, sich aber schon mittelfristig zu einer kurzweiligen Songsammlung ausgewachsen hat, die einem schlicht viel bedeutet. Im Hinblick auf die Live-Vorzüge des Grazer Quintetts bleibt insofern eigentlich nur die Frage, wo bitte eine Studioversion des so formidablen aktuellen Setlist-Closers I Think We‘re Alone Now bleibt?
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