Die Alben des Jahres 2022: 40 – 31
| HM | EPs | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01 | Playlisten |
40. Voodoo Jürgens – Wie die Nocht noch jung wor
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Ungeachtet seines nostalgischen Titels ist Wie die Nocht noch jung wor ein Sinnieren über das Vergängliche, das Ende der Dinge. „Über allem schwebt der Tod“ sagt David Öllerer und macht sich als Voodoo Jürgens mit seiner formidablen Ansa Panier darüber in Songs Gedanken, deren inhaltliche Grenzen zwischen persönlicher Innenansicht und externen Charakter/Milieu-Studien, zwischen Fiktion und Realität mit giftigem Amüsement fließend sind, derweil das musikalische Spektrum breitgefächert wurde wie nie zuvor – vom Twist über die Polka bis hin Jahrmarkt-Wahnsinn reichend ist alles da – weil der Augenblick ja nicht nur da ist, um der Trauer des Unvermeidlichen entgegenzusehen. Trotzdem ist Federkleid als moderner Klassiker für die Ewigkeit der schönste Song dieser Reflexionen, wenn Zeilen wie „Owa friha oder späda/ Ziagt da Herbst ins Laund/ Es Obst wird immer siaßer/ Bis es owefoit vom Staumm“ Gänsehaut bereiten.
Dass Wie die Nocht noch jung wor mit Odessa endet, dem ersten Instrumentaltrack in der Karriere von Voodoo Jürgens, auf dem ein ukrainischer Freund der Band Saxofon und Klarinette spielt, bekommt vor dem Hintergrund des nicht enden wollenden Krieges so auch eher einen dezidiert bitteren Beigeschmack, dem bei allem Humor verständlicherweise die Worte fehlen.
39. Nas – King’s Disease III
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Was hat Nasir Bin Olu Dara Jones bitte seit einiger Zeit für einen unpackbaren Lauf?
Ein Jahr, nachdem er auf dem zweiten Teil der Kings Disease-Reihe und dem sogar noch fulminanteren Magic brillierte, legt die bald 50 jährige Hip Hop-Legende (das Niveau jedenfalls mindestens haltend) nach: Zahlreiche seiner unzähligen Feature-Auftritte heuer – von Gästelistenplätzen bei Snoop Dogg, PJ Morton, YG oder Cormega – waren wirklich cool, sein Auftritt auf DJ Premiers Hip Hop 50 Vol. 1 sowieso. Die Single mit John Legend überzeugte solide und 21 Savage wurde dank One Mic, One Gun und Nas direkt nach dem grottigen Her Loss wieder tragbar.
Mehr als alles andere war da aber natürlich King’s Disease III – jene Platte, die rückblickend womöglich als das Herzstück und der Zenit der triumphalen Zusammenarbeit mit Hit Boy stehen wird; als Kür einer Phase in der Karriere des ansonsten durchaus wankelmütigen New Yorkers betrachtet werden könnte, in der Nas-Platten plötzlich für eine hochqualitative Konstanz bürgen, die man dem Ausnahmerapper vor einigen Jahren bei aller Liebe kaum zugetraut hätte.
38. Ryan Adams – Romeo & Juliet
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Auch wenn es unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung passierte, hatte Ryan Adams ein fantastisches Jahr: seinen trocken gewordenen Wandel zu einem gesünderen Lebensstil hält er ebenso durch wie eine beeindruckende Veröffentlichungsfrequenz. Mit Chris, Romeo & Juliet, FM, Devolver und dem (derzeit ja angesichts von Only the Strong Survive durchaus passenden) Springsteen-Tribut Nebraska sowie auch noch Blood on the Tracks hat der 48 jährige heuer ganze sechs (teilweise gar Doppel-) Alben veröffentlicht.
Sie alle sind in Eigenregie entstanden und notgedrungen ohne Plattenfirma über seinen eigenen Webshop mit Beigeschmack vertrieben/verschenkt worden (mal ganz ernsthaft: warum kann sich Adams nicht wie praktisch jeder andere Musiker auf diesem Planeten einen Bandcamp-Zugang anschaffen?), ein wenig unfokussiert zusammengestellt und generell eher lose Songsammlungen als mit kohärenten Spannungsbögen ausgestattete Platten – aber eben auch alle mehr als gelungen. Das gilt gerade für Romeo & Juliet, einem 76 Minuten langen, nicht immer zwingend essentiellen, aber doch flächendeckend ausfallfreien Potpourri, voller klassischer Singer-Songwriter/Heartland Rock-Perlen, das so viele neuen Instant-Lieblingssongs aus der Feder von Adams auf bittersüße Weise bündelt.
37. Mat Ball – Amplified Guitar
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Ist von Big|Brave die Rede, steht natürlich meistens Frontfrau Robin Wattie im Mittelpunkt der Diskussionen – das wird bis auf weiteres zwar wohl auch so bleiben. Den Jahrgang zwischen dem Doppel aus Vital und Leaving None but Small Birds sowie dem kommenden Nature Morte hat Gitarrist Mathieu Mat Ball allerdings genutzt, um sich ein wenig deutlicher in die Randzonen der Aufmerksamkeit zu bringen.
Und das, obwohl sein zweites Soloalbum Amplified Guitar als Drone-Konstruktion ein Nischenprodukt in einem Genre geworden ist, bei dem sich weiterhin nur schwer analysieren lässt, wann ein Beitrag dazu funktioniert und wann nicht. Die Kardinalfrage, wie vereinnahmend die tiefenwirksame Atmosphäre der Nomen est Omen-Platte Amplified Guitar gelingt, wird jedenfalls mit Bravour beantwortet, während aber gerade das schlüssige Songwriting der Nummern immer wieder in den Bann und eine Welt die auf emotionaler Ebene über den zuletzt gezeigte Western-Ereignishorizont von Dylan Carlson zieht.
36. Chat Pile – God’s Country
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God’s Country zu hören ist wie neun ekelhaft faszinierende Kurzfilme zu schauen, die den Horror der Menschheit mit den USA als Stellvertreter-
Der eklektische, prolongiert auch aus Unmengen an THC geborene und in die Kampfzone von Godflesh und Daughters drängende Sound der Band, mit seinen massiven E-Drums und dem dominanten Bass setzt auf einen martialischen Rhythmus, zeichnet aber dank Erzähler Raygun Busch vor allem so eindringliche Bilder, die wie rauflustige Dämonen im psychotischen Nacken sitzen: selbst wenn man sie nur einmal gehört hat, kann man Stücke wie Why praktisch nicht mehr vergessen, so viel Profil haben sie. Doch ist all das tatsächlich nur ein Missverständnis? „People peg us for being this super nihilistic band. We definitely talk about dark things, but it’s not in an, ‘Oh, fuck it, let’s watch the world burn’ type of way. It’s more like, ‘We wish things were better, and we see a path for things to be better, but we’re not going down that path.’”
35. Zach Bryan – American Heartbreak
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Im Streamingzeitalter, wo zweihundert beschissene Tracks mehr wert sind als zwei gute, überrascht ein Album mit 34 Tracks eigentlich nicht einmal mehr im Country so wirklich. Derart marktwirtschaftliche Kalkulationen scheinen für Zach Bryan jedoch nicht relevant zu sein – oder zumindest fühlt es sich nicht so an, als würde er keinen Gedanken daran verschwenden: Der in Eigenregie veröffentlichende 26 jährige schreibt einfach Songs wie ein Besessener am Fließband und muß sie einfach alle rauslassen.
Deswegen sind ein unablässiger Strom aus Standalone(?)-Singles (wie etwa Burn, Burn, Burn oder Starved) für den Navy-Veteranen ebenso selbstverständlich wie Songsammlungen in Albumlänge kurzerhand als EPs zu deklarieren (wie Summertime Blues) – oder eben ein Tripple-Drittwerk über die Länge von mehr als zwei Stunden.
Insofern sind Gedankenspiel dahingehend zwar erlaubt, wie weit vorne American Heartbreak in dieser Liste gelandet wäre, hätte Bryan die Selbstbeherrschung gehabt und die Menge des vorhandenen Material rund um Ausnahmenummer wie Something in the Orange oder The Outskirts auf die stärksten Stücke begrenzt zu selektieren. Allerdings vordergründig deswegen, weil die Masse sich hinsichtlich der angebrachten Wertschätzung nicht immer ideal mit der eigenen Aufmerksamkeitsspanne verträgt. Unter den insgesamt 47 (?) Songs, die Bryan heuer veröffentlicht hat, war kein einziger schlechter. (Und dass das nächste Album bereits angekündigt wurde, braucht man wohl nicht noch extra zu erwähnen).
34. Ashenspire – Hostile Architecture
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Auch wenn das Ergebnis letztlich natürlich gänzlich anders funktioniert, wirft das Zweitwerk des skandierenden Schlagzeug-Vokalisten Alasdair Dunn (der unlängst ja auch als Joule Thief tätig wurde) und seiner Gang doch bis zu einem gewissen Grad die reißerische Frage auf, ob Hostile Architecture womöglich das Pendant zu Ants from Up There der Indie-Konsens-Lieblinge Black Country, New Road darstellt – nur eben aus der Perspektive eines brennenden Speaker’s Corner in Glasgow, auf dem unter den Fingernägeln brennende Spoken Word-Tiraden vor folkloristisch angejazztem Avantgarde Black Metal hinausgespien werden…
…wie dem auch sei: Vier Jahre nach dem Debüt Speak Not of the Laudanum Quandary scheint die Zeit für die nun in jeder Hinsicht kompletter auftretenden Ashenspire jedenfalls endgültig reif zu sein – es hat wohl hier und da auch einfach nur ein wenig gebracht, um mit der nicht nur am Papier ziemlich eigenwillig daherkommenden Stil-Konstellation umgehen zu können. Um hinter der per se reizvoll polarisierenden vordergründigen Originalität dem zwingenden Songwriting und Storytelling zu verfallen und das, was prätentiös auftreten mag, als authentische Exzentrik schätzen zu lernen.
33. Knoll – Metempiric
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Inmitten einer veritablen Grindcore-Renaissance (oder zumindest einer aktuell dank u.a. Cloud Rat, Wormrot, Helpless, Vermin Womb, Escuela Grind oder No/Más nicht abebben wollenden Flut an Genre-Schmankerl, auf der sogar Gridlink wiederbelebt wurden) wirkt das Tennessee-Kuriosum Knoll – alias die Band, die mehr Gitarristen auffährt, als so manche Genre-Kollegen überhaupt Bandmitglieder zählen – 16 Monate nach seinem Debütalbum längst wie eine rundum etablierte, zuverlässige Bank in der Szene.
Dank eines die Stärken von Interstice noch konsequenter ausbrütenden Zeitwerts wird das Newcomer-Überraschungsmoment aus dem vergangenen Jahr jedenfalls endgültig nicht mehr benötigt – dafür ist nun ein pointiert eingesetztes Saxofon mit an Bord. Und all die „Vorwürfe“, es hierbei „nur“ mit einer hochkompetenten Full of Hell-Kopie zu tun haben zu können, prallen ohnedies an der abgeklärten Wucht, intensiven Präsenz und zwingenden Klasse von Knoll ab. Denn spätestens jetzt, mit diesem Statement von einem Zweitwerk, besitzt das tatsächlich Referenzwert.
32. Arctic Monkeys – The Car
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Obwohl Tranquility Base Hotel & Casino inzwischen vier Jahre mehr auf dem Buckel hat, tritt The Car wie der reifere, selbstsicherere und auch abgeklärtere ältere Bruder seines Vorgängers auf: erstmals seit langer Zeit haben die Arctic Monkeys sich für ein Album nicht neu eingekleidet, sondern die Mode der Zäsur von 2018 weitergedacht.
„I mean, it’s never gonna be like R U Mine? and all that stuff again. You know, the heavy riffs and stuff.” gibt der allerorts gefragte Drummer Matt Helders zu Protokoll und sorgt mit seiner Band angesichts der laufenden Tour doch für eine ambivalente Ausgangslage: nur sechs der insgesamt einundzwanzig dort aktuell gespielten Nummern stammen von den jüngsten beiden Alben.
Was zumindest angesichts der gebuchten großen Hallen für die Konzertreise Sinn macht – das richtige Ambiente für The Car wäre nämlich wie schon bei Tranquility Base Hotel & Casino eigentlich der stylishe Ohrensessel einer todschick aus den 70ern gefallenen Lounge gewesen, in der Wes Anderson die Ankündigung für die kommende Kooperation mit Lana Del Rey inszeniert.
31. Celeste – Assassine(s)
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Es kann Entwarnung gegeben werden: die unerbittlichen Nihilisten von Celeste wurden durch den Wechsel zum Major Nuclear Blast nicht in ihrem pechschwarzen Weltenhass korrumpiert.
Vor allem das mit einem größeren Budget einhergehende Engagement von Produzenten Chris Edrich (u.a. Leprous, Devin Townsend, TesseracT, The Ocean, Gojira oder Agent Fresco), der eigentlich nur als Ersatzmann für Will Putney herhielt, erweist sich als Glücksfall, bringt er dem Post-Black-Sludge-Screamo der Franzosen doch eine produktionstechnisch bisher ungekannte Klarheit und Präzision bei, lässt vieles moderner klingen, wodurch das auf eine breitere Basis gestellte Songwritings hin zu klarer und griffiger ausgelegten Tendenzen den nötigen Nährboden fand. Es gibt nun also Lead-Gitarren und weniger Blastbeats, mit dem Beitrag von Emily Marks sogar weibliche Vocals als Kontrast, derweil die Melancholie der wütenden Aggression Raum abgenommen hat.
Die seit jeder eher subtil stattfindende Evolution, die Celeste im Rahmen ihrer unverrückbar definierten Identität vollziehen, sie passiert auf Assassine(s) erstmals in einem markanten Ausmaß, lässt in einer relativen Rasanz allerdings niemanden zurück, sondern reicht nicht nur seinem Stammklientel die Hände.
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